In einer neuen Ausstellung konfrontiert uns das Landesmuseum Zürich mit negativen und positiven Klischees über die Schweiz. Unterschiedliche Objekte sollen uns dazu anregen, über das Widersprüchliche dieser Klischees nachzudenken.
«Wunderbar widersprüchlich» heisst die neue Ausstellung des Landesmuseums Zürich, die es seit dem 4. Februar zu sehen gibt. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung verschiedener Bilder, Texte und Objekte aus Schweizer Archiven und Bibliotheken. Die Grundidee des Projekts ist es, gängige Vorstellungen aufeinanderprallen zu lassen. «Jedes Klischee hat sein Gegenteil und es gibt Raum für Nuancen und Kombinationen», so Marina Amstad, die Historikerin und Ausstellungskuratorin des Landesmuseums Zürich ist und das ganze Projekt geleitet hat.
Die Exponate sind meistens Dinge, die beiläufig und übermässig klischeehaft sind, wie die Bahnhofsuhr und das Buch «Heidi» von Johanna Sypri (1827-1901). Das sind Dinge, die in Archiven und Bibliotheken aufbewahrt werden, aber kaum Beachtung finden. Amstad und ihr Team schaffen es, aus diesen kleinen Dingen ein Kunstwerk zu machen. Dieses besteht aus der kritischen und amüsanten Inszenierung von positiven und negativen Ansichten über die Schweiz. Es soll den BesucherInnen das Paradoxe dieser Ansichten vermitteln und sie mit Fragen nach der Schweizer Identität und ihrer eigenen Haltung zu Selbst- und Fremdbildern konfrontieren.
Nebensächliches und Unbekanntes
Das Plakatsujet der Sammlung zeigt einen Zwerg und seinen Schatten, der paradoxerweise einen Riesen darstellt. Der Zwerg, der hier die Schweiz symbolisiert, blickt mit einer stolzen Haltung auf seinen Schatten. Es ist dieser Widerspruch in der Selbstbeobachtung, der uns mit einer Vielzahl von Objekten vor Augen geführt wird. Die Gegenstände sind so inszeniert, dass sie sich gegenseitig widersprechen. Da ist zum Beispiel der «Fichen-Skandal» von 1989, der die unbegrenzte Möglichkeit der Verletzung von persönlichen Freiheiten in einer der größten Demokratien der Welt zeigt.
Im Gegensatz dazu gibt es eine Abteilung über «Steueroasen» für Reiche. In einer Vitrine steht ein paar rote Turnschuhe mit Schweizer Kreuz auf der Rückseite, die Micheline Calmy-Rey im Jahre 2003 beim Überschreiten der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea trug. Die ehemalige Bundesrätin hatte diese Schuhe nur für diesen so genannten historischen Moment getragen. Sie stehen symbolhaft für die guten Dienste der Schweiz in der Diplomatie und der Konfliktlösung, die zu einem positiven Selbstbild gehören. Für BetrachterInnen können sie aber auch eine Metapher der begrenzten Nützlichkeit solcher Dienste darstellen. Denn die koreanischen Konflikte halten auch fast 20 Jahre nach diesem Ereignis an.
Es gibt auch Exponate, die uns Aufschluss unbekannter Aspekte der Schweizer Geschichte erzählen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich 80 % der Bevölkerung im westösterreichischen Vorarlberg für einen Anschluss an die Schweizerische Eidgenossenschaft ausgesprochen. Der Anschluss wurde jedoch nie realisiert und politisch nicht weiterverfolgt. Ein weiterer Abschnitt ist den nicht realisierten Plänen des Tessiner Ingenieurs Pietro Camina gewidmet, der die Alpen durch den Bau von Tunneln und Schleusen sichtbar machen wollte, und ein anderer dem Vorschlag von Muammar al-Gaddafi, die Schweiz zu parzellieren.
Ausdruck eines rastlosen Zeitgeistes
Die Thematik der Galerie ist von grosser Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern ist eine konstante Grundhaltung in der Schweizer Öffentlichkeit, spätestens seit der Veröffentlichung von «The Gnomes of Zurich» von Theodore Reed Fehrenbach 1966, ebenfalls ein Exponat des Museums. Der Titel wurde in den 1960er Jahren zu einer umgangssprachlichen Bezeichnung für Schweizer Banker. Das Buch des amerikanischen Historikers läutete das Zeitalter der Selbstkritik und des Zweifels an der Schweizer Selbstdarstellung in Landesausstellungen und Museen ein.
Die Expo 64 in Lausanne sollte noch das Wesen des Landes beschreiben, und dies angesichts der rasanten Entwicklungen in der Welt durch technische Errungenschaften wie erste künstliche Erdsatelliten, Migrationswellen und wirtschaftliche Umstrukturierungen. Die Landesausstellung sollte die Bürgerinnen und Bürger daran erinnern, was die Schweiz ist und wohin sie sich entwickeln soll. Das Exemplar über die «Zürcher Zwerge» im Landesmuseum symbolisiert die Abkehr von diesem Zeitgeist hin zu einer Selbstverleugnung und den Zweifeln an der Wahrheit einer «Schweizer Eigenart».
Ähnlich wie die Expo 64 zeigt die Ausstellung aber auch, wo die Schweiz global steht: in einer Identitätskrise, die sie wohl nie verlassen wird. «Wunderbar widersprüchlich» ist ein künstlerischer Ausdruck dieses rastlosen Zeitgeistes, der uns im Zeitalter des rasanten Wandels durch die Digitalisierung und die zunehmende Mobilität der Menschen derzeit prägt.
Im Kontrast zu dieser Bedeutung des Themas steht die Räumlichkeit der Ausstellung selbst. Ihr ist ein kleiner Raum im Erdgeschoss gewidmet, in dem normalerweise nichts Monumentales präsentiert wird. Bis vor kurzem waren hier Stereografien der Schweiz aus der Zeit zwischen 1860 und 1910 zu sehen. Die neue Sammlung gehört wohl nicht zu den grossen Prestigeprojekten des Museums. Dennoch liegt die Grösse in ihrer Funktion, uns zum Nachdenken anzuregen, wie wir uns als SchweizerInnen definieren.
«Wunderbar widersprüchlich» ist noch bis am 24. April zu sehen. Das Landesmuseum ist für Besucher täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet, donnerstags ist es bis 19 Uhr geöffnet. Souvenirs aus der Ausstellung können in der Museumsboutique erworben werden. Der Besuch ist nur für geimpfte oder genesene Personen mit einem Covid-Zertifikat gestattet, Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren sind davon ausgeschlossen. Für alle BesucherInnen über 12 Jahren besteht eine Maskenpflicht.