Die archäologischen Rettungsgrabungen im Äbnetwald bei Cham-Oberwil dauern nun schon länger als ein Jahr und haben auf einer Fläche von über 500 m² zahlreiche Bruchstücke von alten Alltagsgegenständen an die Oberfläche gebracht. Ob es sich beim entdeckten Gebäudekomplex um eine Villa oder einen Tempel handelt, ist hingegen immer noch offen.
Im Äbnetwald bei Cham-Oberwil sind Anfang 2023 Fachleute des kantonalen Amts für Denkmalpflege und Archäologie bei Rettungsgrabungen an der Erdoberfläche auf interessante Steine gestossen. Nach weiterer Untersuchung stellte sich heraus, dass diese Steine zu einer Mauer eines grossen und erstaunlich gut erhaltenen römischen Steingebäudes gehörten. Zuletzt wurden vor fast 100 Jahren auf Zuger Boden römische Bauten ähnlichen Ausmasses gefunden. Mit zwei Tagen der offenen Grabung wurde die Entdeckung gefeiert und nun bereits seit über einem Jahr genauestens untersucht.
Wer die Ausgrabungen besucht, erkennt den Hauptbereich der Fundstelle an einem grossen Zelt, welches sie vor Witterung schützt. Mittels naturwissenschaftlicher Prospektionsmethoden konnte ein Gebäudekomplex von 500 m² unter der Erdoberfläche festgestellt werden. Noch sind die unterirdischen Mauern neben dem Hauptbereich der Fundstelle mit Sägespänen markiert. Doch bevor der Kiesabbau der Risi AG auf deren Fläche voranschreitet, werden die Rettungsgrabungen den Rest des vor rund 2000 Jahren errichteten Gebäudes freilegen. Dass die Fläche der römischen Bebauung noch grösser als die bisher geschätzten 700 m² ausfallen wird, ist nicht ausgeschlossen.
Die zuständigen kantonalen Vertreterinnen arbeiten seit den 1990er-Jahren eng mit der Risi AG zusammen und lassen jeweils dort Ausgrabungen durchführen, wo das Unternehmen Kies abzubauen plant. Würde die Risi AG das Gebiet beim Äbnetwald nicht bearbeiten, würde das Amt für Denkmalpflege und Archäologie seine Ausgrabungen gar nicht durchführen. «Dafür wird zuerst der Wald abgeholzt, dann die obere Erdschicht mit dem Bagger abgetragen und schliesslich nach Spuren unserer Vorfahren gesucht», erklärt Gishan Schaeren, Leiter der Abteilung ur- und frühgeschichtliche Archäologie des Kantons Zug. Für die Untersuchung dieser Oberflächen des Kieshügels hat das Archäologieteam jeweils ein Jahr Zeit, bevor der Kiesabbau auf demselben Gebiet losgeht.
Vom Gletscher konserviert
Der Äbnetwald verfügt über grosse Mengen an Kies, weil sich hier einst der Reussgletscher befand, der dieses Rohmaterial in solchem Ausmass mit sich gebracht hat, dass daraus Hügel entstanden sind. Weshalb der römische Gebäudekomplex so nahe an der Bodenoberfläche so gut erhalten blieb, ist nicht bekannt. Anhand von Verputzresten mit roter und schwarzer Farbe lässt sich sogar erkennen, dass die Wände bemalt waren. Auch konnten Kiesplätze und -wege festgestellt werden, welche den Gebäudekomplex umgeben. Reste von Karrengleisen deuten eine Strasse an, die zum Gebäude führte.
Ob es sich bei der Errichtung um eine Villa oder doch um einen Tempel handelt, sind sich die Archäologinnen noch nicht einig. Für letzteren spricht ein Münzfund mit Geldstücken aus den keltischen und römischen Epochen sowie die Tatsache, dass bei der römischen Wassermühle in Cham-Hagendorn ein kleines Heiligtum gefunden wurde. Doch vielleicht wohnte auf dem Gebiet des Äbnetwalds schlicht eine wohlhabende Familie. «Die Entdeckung dieses Gebäudes ist wertvoll, weil sie unser Bild der Geschichte dieser Region ergänzt», sagt Schaeren, «Bisher wurde die Bebauung dieser Gegend sowie deren Verbindung mit anderen Siedlungen der römischen Schweiz anders eingeschätzt.» Durch die Entdeckung dieses Gebäudes wird klar, dass die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Region Zug in der Zeit des Römischen Reichs bisher unterschätzt wurde. In welchem Ausmass, ist noch unklar.
Eine vorteilhafte Lage
Im Gegensatz zum Mittelland sind solche Bauten aus der römischen Zeit im voralpinen Raum nur selten anzutreffen. Die erhöhte Lage beim Äbnetwald bietet einen vorteilhaften Aus- und Überblick auf die Umgebung und ebenfalls ist die Versorgung mit Wasser und Nahrung gewährleistet. Diese Attribute machen den Standort attraktiv, sodass es nicht verwunderlich ist, dass er bereits Jahrtausende vor den Römern mehrfach besiedelt wurde.
«Auf diesem Gebiet sind wir auch auf Reste einer Siedlung aus der mittleren Bronzezeit, Gräber aus der späten Bronzezeit sowie dem Mittelalter und auf Gruben aus der Eisenzeit gestossen», sagt Schaeren. Das Alter der römischen Bauten im Äbnetwald wird auf das erste Jahrhundert nach Christus geschätzt, was es auch zu einem der älteren römischen Gebäude in der voralpinen Zentralschweiz macht. «Dieser beeindruckende Fund ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Region des Kantons Zug einst ein fester Bestandteil des Römischen Reichs war», erklärt der Archäologe.
Scherben illustrieren ehemaligen Alltag
Hinweise darauf, wie die Menschen hier gelebt haben, liefern Bruchstücke von Alltagsgegenständen, die innerhalb der Mauern gefunden wurden. Wer die Grabung besichtigt, wird einige Funde anhand farbiger Markierungen auf dem Boden erkennen: rosa Markierungen stehen für Scherben, grüne für Metall und gelbe für Knochen – in diesem Fall handelt es sich um Tierknochen, die in der Regel im Abfall der Römer gefunden werden.
Durch Funde wie diesen konnten die Wissenschaftler wichtige Erkenntnisse über die Römer in der voralpinen Zentralschweiz gewinnen. Zum Beispiel weisen Fragmente verzierter Keramikgefässe sowie Amphoren aus Nordspanien und der Toskana, die für den Transport von Wein, Olivenöl und Fischsauce aus dem Mittelmeerraum verwendet wurden, auf weitreichenden Handel hin. Die Archäologen fanden überdies einige Glasgefässe und Teile von Terra Sigillata: «Dabei handelt es sich um importiertes Geschirr mit rotem, wasserdichtem Überzug, welches in eher gehobener Gesellschaft auf den Tisch kam», erläutert Schaeren. Besonders hervorzuheben ist überdies der Fund eines Goldfragments. Wahrscheinlich gehörte dieses einst zu einem Schmuckstück.
Rund um die Steinmauern wurde eine hohe Zahl an Eisennägeln gefunden, was die Archäologinnen darauf schliessen lässt, dass auf dem steinernen Mauerfundament eine Holzkonstruktion stand. Ebenfalls wurden Anzeichen dafür gefunden, dass hier einst Kalksteine verbaut waren, diese jedoch gestohlen und an einem neuen Ort wiederverwendet wurden.
Mischwald soll Nadelwald ersetzen
Wenn die Grabungsarbeiten fertig und der Kies abgebaut ist, soll die bearbeitete Fläche renaturiert werden. Der Endgestaltungsplan dafür, wie hier nach der Rodung des Nadelwalds ein schnellwachsender Mischwald angepflanzt werden soll, stand, noch bevor die ersten Kiefern gefällt wurden. Die Risi AG will das Gebiet sogar in einem besseren Zustand verlassen, als sie es vorgefunden hat – das ist Voraussetzung dafür, dass das Unternehmen hier überhaupt Kies abbauen darf. So sollen hier Neophyten möglichst entfernt, die Pflanzen vermehrt und die lokale Fauna wie die Ringelnatter und die Zauneidechse unterstützt werden. Tiere, welche die hier einst ansässigen Römer bereits kannten.