So weit musste es wohl kommen, jetzt brauchen wir nicht nur einen Psychiater, mit dem wir über unsere Macken sprechen können, sondern auch eine Digital-Therapeutin, die uns von der Smartphone- und E-Mail-Versklavung erlöst und aus unserem digitalen Hamsterrad holt. Anitra Eggler heißt die Wahl-Wienerin, die uns nicht zu Unrecht in einem Network-Karriere-Titelseiten-Interview die Leviten liest: Schließlich vergeuden wir sinnlos unsere Lebenszeit. Von zehn Arbeitsjahren verbringen wir zwei Jahre mit dem Schreiben und Beantworten von E-Mails und weitere zwei satte Jahre mit dem Handy.
Anitra Eggler weiß, worüber sie spricht. Sie ist Journalistin, Bestsellerautorin, war viele Jahre Managerin von Medien- und Werbefirmen in der Internetbranche und zählt zu den 100 besten Vortragsrednern der D-A-CH-Region.
Eine bezaubernde junge Frau, die es faustdick hinter den Ohren hat und uns sagt, warum wir dumm, krank, arm, unfrei, impotent, arbeitslos und asozial werden (suchen Sie sich was aus), wenn wir nicht rasch lernen, Digitalika klug zu konfigurieren.
Anitra Eggler braucht kein Warm-up für ein Interview. Sie legt gleich aus dem Stand los und sagt uns, wie der Hase läuft:
Anitra Eggler: E-Mail, Handy, Web, wir sind dauerabgelenkt statt aufmerksam. Wir reagieren statt zu agieren. Wir sind überkommuniziert, aber uninformiert. Jetzt kennen Sie die fiesesten Fakten. Verzeihen Sie die Schwarzmalerei – ein Tribut an die Schocktherapie. Wie und warum ich mich nach fast 15 Manager-Jahren in der Internet-Branche einer Digital-Therapie unterzogen habe und warum es so wichtig ist, immer wieder zu entgiften („Digital Detox“ heißt das Medienmodewort), beantworte ich gerne.
FonTimes: Sie haben den Begriff „Digital-Therapie“ erfunden. Was ist das? Was bringt das?
Anitra Eggler: Eine Digital-Therapie therapiert weit verbreitete Kommunikationskrankheiten. Sie hilft Menschen und Unternehmen, den digitalen Segen auszubeuten, für den die digitale Revolution angetreten ist. Ich habe den Begriff 2010 erfunden, um den Menschen mit einem Augenzwinkern rüberzubringen, dass wir unser Verhalten ändern müssen, wenn wir uns nicht alle in den Wahnsinn treiben möchten.
FT: Warum braucht man eine Therapie? Um den digitalen Segen auszubeuten?
Anitra Eggler: Weil wir uns derzeit von den Medienmöglichkeiten sagen lassen, wie wir die Technologien nutzen, und nicht von unserem Menschenverstand. Dadurch entstehen Kommunikationskrankheiten wie Handy-Hysterie, E-Mail-Wahnsinn, Sinnlos-Surf-Syndrom oder Facebook-Inkontinenz – die rauben uns Lebenszeit und Erfolg, beruflich und privat. Beispiel: Nur weil es das Handy ermöglicht, rund um die Uhr erreichbar zu sein, muss ich es ja nicht sein, wenn mir mein Menschenverstand sagt, dass ich mich nicht wie ein Notarzt verhalten muss, weil ich gar kein Notarzt bin.
Das heißt: Ich sollte auch nicht ans Telefon gehen, um zu sagen, dass ich gerade gar nicht ans Telefon gehen kann, weil ich z. B. in einer Besprechung bin. Das ist albern. Oder: Nur weil es medienmöglich ist, auf Facebook öffentlich Tagebuch zu führen und seinen inneren Gedankenstrom in Form eines Live-Tickers zu veröffentlichen, muss ich das ja nicht tun, wenn mir mein Menschenverstand sagt, dass die Veröffentlichung meiner Privatsphäre meiner Reputation schadet. Aus unternehmerischer Sicht: Nur weil es scheinbar nichts kostet, eine Fan-Page anzulegen (in Wirklichkeit kostet es viel, nämlich Zeit, Ressourcen und im schlechtesten Fall Reputation), muss ich das nicht tun, wenn mir meine strategische Weitsicht sagt, dass ich keine Ressourcen für einen weiteren PR-Kanal habe und die Facebook-Seite nur Zeit kostet, aber nicht messbar mehr Umsatz bringt.
FT: 68 Prozent der Handybesitzer leiden an eingebildetem Vibrationsalarm. Jeder Zweite nimmt das Handy mit ins Bett. Warum lassen wir uns so bereitwillig von Maschinen bestimmen?
Anitra Eggler: Weil wir die Gebrauchsanleitung nicht lesen. Weil wir zu faul sind, die Geräte zu konfigurieren, und deshalb immer nur die Idiotenfunktionen nutzen. Weil wir versuchen, schneller als die Maschinen zu sein, und deshalb keine Zeit mehr haben.
Warum haben wir keine Zeit mehr? Weil wir sie uns nicht nehmen. Nehmen Sie sich Zeit, Ihre Geräte zu konfigurieren. Schlauen Sie sich auf. Wie das? Durch die erweiterte Google-Suche oder mit YouTube-Tutorials – das verstehe ich unter Sinnvoll-Surfen.
FT: Digitale Geräte sind für viele ein Segen – für Sie nicht?
Anitra Eggler: Doch. Natürlich. Ich möchte nicht ohne mein Handy oder das Internet leben. Aber es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich ein ideales Verhältnis von Distanz und Nähe entwickelt habe. Plus: Ich musste Zeit investieren, um den Segen auszubeuten und den Fluch auszuschalten.
FT: Wie kann man den digitalen Segen ausbeuten?
Anitra Eggler: Das Zauberwort heißt „Zeit“ – das ist die wertvollste Währung unserer aktionistischen Sofortness-Gesellschaft, deshalb geizen wir damit und leiden unter dem zermürbenden Gefühl, ständig im Zeit-Minus zu sein. Dabei ist Zeit der Schlüssel zum Segen. Jeder muss Zeit investieren, um Zeit zu gewinnen – das klingt paradox, aber es funktioniert.
FT: Was heißt das konkret?
Anitra Eggler: Sie müssen Zeit investieren, um Ihre Geräte und Apps so zu konfigurieren, dass sie Ihnen das bringen, wofür die digitale Innovation angetreten ist: Zeitersparnis, viele Dinge des Alltags und des Jobs vereinfachen, Informationen und Wissen besser managen und, ja, Menschen zusammenbringen, Meinungen austauschen und, wichtig, auch ganz einfach mal Spaß haben und entspannen.
FT: Das klingt kinderleicht. Wo ist der Haken?
Anitra Eggler: Die Herausforderung besteht darin, dass die Idiotenfunktionen der Geräte so intuitiv zu bedienen sind, dass man völlig hirnfrei beginnt, ein Gerät oder eine App in Betrieb zu nehmen und sich dann von den Medienmöglichkeiten – und nicht vom gesunden Menschenverstand – sagen lässt, wie man das Gerät oder die App sinnvoll nutzt. Das führt dazu, dass uns die Geräte im Griff haben und die Anbieter unsere Privatsphäre und nicht wir die Geräte und unsere Daten. Erkenntnis: Das Betriebssystem für jede Technologie ist nicht die Technologie selbst, sondern sein Anwender, der Mensch. Jedes Smartphone ist nur so smart wie sein Besitzer.
FT: Wann haben Sie Ihr erstes Handy gekauft?
Anitra Eggler: 1996, ein Nokia 2110. Heute ist dieser Knochen ein Kultobjekt. Damals war man „wichtig“, wenn man auf der Straße telefonierte – heute ist man versklavt, ein Zombie.
FT: Von 1998 bis 2010 waren Sie als Start-up-Managerin erfolgreich. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie reif sind für eine Digital-Therapie?
Anitra Eggler: Anfang 2009. Da habe ich Bilanz gezogen und mit Entsetzen festgestellt, dass ich bereits 1,5 Jahre vermailt und 2,5 Jahre versurft hatte. Heute weiß ich, dass ich mir und meinen damaligen Mitarbeitern viel Arbeits- und Lebenszeit hätte sparen können, wenn ich früher kritisch hinterfragt hätte, wie ich die digitalen Medien nutze, wie wir kommunizieren möchten und – noch wichtiger – wie nicht.
FT: Vier Jahre im Netz – wie haben Sie das „geschafft“?
Anitra Eggler: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Ganz einfach: Ich war der schlimmste E-Mail-Saulus und der größte Informations-Junkie, den Sie sich vorstellen können. Highspeed-Kommunikation und Dauererreichbarkeit habe ich immer als Notwendigkeit, als Wettbewerbsvorteil, als Synonym für Projektmanagement und Dienstleistertugend angesehen.
Das hieß: To-Do-Listen Samstagnacht, ständig online, auch im Urlaub und im Morgengrauen, ständig auf Dauerrecherche, ständig Grauzonen optimierend, ständig kommunizierend, ständig fordernd, E-Mail als Synonym für Produktivität und Führung missbrauchend – das schien mir ganz normal und mehr noch, es schien mir notwendig. Darunter haben meine Leute gelitten – und meine Lebensqualität. Als Tageszeitungs-Redakteurin hatte ich in den 1990er-Jahren gelernt abzuschalten. Wenn die Zeitung in Druck ist, defragmentiert man das Hirn, um Platz zu schaffen für den nächsten Arbeitstag. Ohne diese Fähigkeit wäre ich ausgebrannt. Einige meiner Weggefährten hatten diese Fähigkeit nicht. In meinem Freundes- und Ex-Kollegenkreis gibt es mehr Burnout-Fälle als Kinder.
FT: Die Online-Arbeiter haben Ihre ständige Erreichbarkeit quasi selbst propagiert?
Anitra Eggler: Das tun sie heute noch. Und jetzt lassen wir die „Digital Natives“ mal außen vor. Die leben ja auch nur die Medieninkompetenz nach, die vorgelebt wird. Sehen Sie sich Twitter-Profile von klugen Menschen an: Da werden im Halbstundentakt 140 Zeichen „Blubb“ in den Äther der Unwichtigkeit gejagt, nur unterbrochen von sechs Stunden Schlaf. Wann leben diese Menschen? Und wovon leben sie? Von 140 Zeichen Luftgitarre?
FT: Ist der aktuelle Internet-Boom wieder eine Blase?
Anitra Eggler: Hellsehen überlasse ich Hellsehern. Wenn ich mit Start-up-Unternehmern spreche, kann ich nur sagen: Wir haben dieselben Fehler gemacht. Heute wiederholen sie sich – das müsste nicht sein. Wir wollten in den 1990ern auch nur die Chancen, alles andere haben wir ignoriert. Wenn du in Goldrausch-Stimmung bist, fällt das auch leicht. Du arbeitest rund um die Uhr – und hast Spaß dabei. Man verwechselt seinen Online- und Kommunikationsaktionismus mit Produktivität. Ich selbst kommuniziere gerne und denke schnell. Das habe ich vorgelebt und von meinen Mitarbeitern auch eingefordert.
Ich habe täglich bis 23 Uhr, 24 Uhr gearbeitet und bin mit dem Handy ins Bett. Niemand hat mich dazu gezwungen; ich wurde nicht ausgebeutet. Das kam aus mir selbst. Bis ich nach über zehn Jahren erkannt habe: Wenn wichtiger wird, dass man kommuniziert, als WAS man kommuniziert, ist das ist blinder Aktionismus.
FT: Sie warnen vor der digitalen Dauerablenkung. Warum?
Anitra Eggler: Weil sie unsere Konzentrationsfähigkeit zerstört. Das ist ein gewaltiges Problem. Wenn ich ständig versuche, alles gleichzeitig zu tun, mache ich nichts mehr richtig. Harvard-Ärzte nennen die Dauerablenkung inzwischen „ADT – Attention Deficit Trait“. Namensvater Dr. Edward Hallowell geht davon aus, dass heute jeder zweite Manager unter ADT leidet. Das heißt: Er lässt sich von der nächsten Unterbrechung, z.B. Spam-E-Mail, sagen, was er als nächstes tut und nicht von seiner Priorisierung.
FT: Aber suchen wir diese Ablenkung nicht selbst, wenn wir ständig unser Handy, unseren Posteingang oder unser Facebook-Konto kontrollieren?
Anitra Eggler: Doch, verrückterweise. Genau das tun wir. Warum? Unser Gehirn wird süchtig nach den Dopamin- und Adrenalin-Ausschüttungen, die einen Aufmerksamkeitsreiz begleiten. Wir gehen diesen Ablenkungen nach, weil wir einfach nicht imstande sind, das abzuschalten. Deshalb rate ich zum Beispiel, bei Smartphones den automatischen Mail-Download und sämtliche Push-Mitteilungen abzuschalten. Dann sieht man nicht dauernd, dass schon wieder ungelesene Nachrichten da sind. Wir können nicht anders – wir wollen dann „nur mal kurz gucken“. Daraus wird aber meistens „ziemlich lang“. Unser Hirn ist süchtig nach diesen Glückserlebnissen.
FT: Die Technologien, die uns schneller, produktiver und flexibler machen sollten, bewirken das Gegenteil?
Anitra Eggler: Man lügt sich selbst in die Tasche. Fragt man die Leute, wie oft sie pro Tag auf Facebook gehen, dann hört man in aller Regel: Naja, zweimal, vielleicht dreimal, immer nur für ein paar Minuten. Schaut man sich dann die Mediadaten von Facebook an, stellt man fest: Die durchschnittliche Verweildauer eines Facebook-Nutzers beträgt zwanzig Minuten. Unsere Zeitwahrnehmung beim Nutzen sozialer Netzwerke ist total verzerrt. Wenn ich dreimal am Tag für zwanzig Minuten auf Facebook bin, macht das schon eine Stunde. Rechnen Sie jetzt noch die Mittagspause dazu und ein bisschen Kaffeeklatsch hier, ein bisschen ins Nirwana googeln da plus die Dauerablenkung durch pseudowichtige E-Mails oder Messenger-Nachrichten, die „sofort“ beantwortet werden müssen – und Sie kommen auf einen beachtlichen Arbeitszeitverlust. Kein Wunder, dass die Leute dann glauben, sie müssten abends und am Wochenende nacharbeiten.
FT: Ihr Tipp lautet also abschalten?
Anitra Eggler: Ja, Abschalten ist extrem wichtig. Ständig wird so getan, als sei Multitasking eine Karrieretugend. Sehen Sie sich Stellenanzeigen an: Da wird nach der Krake gesucht, die 666 Dinge auf einmal tun kann. Das ist irre.
In meinen Augen zählt es heute zur unternehmerischen Verantwortung, den Leuten zu sagen: Wir wollen keine ständige Erreichbarkeit. Ständige Erreichbarkeit ist für mich inzwischen Synonym für miserables Zeitmanagement. Nur Sklaven sind ständig erreichbar. Das ist ein falscher Karriere-Götze, der gestürzt werden muss. Besser investieren Sie in einen Funklochraum, wo Mitarbeiter ungestört konzentriert arbeiten können.
FT: Wann wird ein Umdenken einsetzen?
Anitra Eggler: Es hat längst begonnen. Die Personalabteilungen merken, dass es immer mehr Krankheitstage aufgrund psychischer Erschöpfung gibt, die Chefetagen erfahren vom Produktivitätsverlust durch digitale Ablenkungen am Arbeitsplatz. Verschiedene Zusammenhänge, dasselbe Fazit: Dieser Trend ist kontraproduktiv. Wir sollten die Technik intelligent nutzen – aber wir sollten uns dabei nicht an die Technik outsourcen.
FT: Was ist das Wichtigste, das Sie wegen Handy, Web und E-Mail verpasst haben?
Anitra Eggler: Das Einzige, was wir verpassen können, wenn wir Angst haben, etwas zu verpassen – und das ist leider das Wertvollste, was es im Leben gibt – ist: Leben. Aber keine Bange, das hole ich inzwischen nach allen Regeln der Lebenskunst nach.
FT: Wie ist Ihnen der Ausstieg gelungen?
Anitra Eggler: Indem ich mir Zeit genommen habe, ganz kritisch zu hinterfragen, für welches Ziel ich welches Medium oder Gerät einsetzen will. Und: Indem ich dann ganz strikt die Medien und Geräte so konfiguriert habe, dass sie mich auf dem kürzesten Weg zum Ziel bringen. Plus: Ich habe Kommunikationsrituale gebrochen, die sich eingeschlichen hatten. Dinge wie: ständiges Standby-Sein, ständig kommunizieren, auch im Urlaub, oder E-Mails checken, auch wenn man gar keine Zeit hat zu antworten, z. B. im Straßenverkehr. Und ganz wichtig: Schluss mit dem Multitasking!
Heute bin ich, gleich was ich tue, wieder zu 100 Prozent bei der Sache: Wenn ich esse, esse ich, wenn ich telefoniere, telefoniere ich, wenn ich maile, maile ich – ich versuche nicht mehr, alles gleichzeitig und dadurch nichts mehr richtig zu machen. Diese Aufmerksamkeit für andere, dieses Präsent-und-dabei-menschlich-Sein, ist ganz sicher einer meiner Erfolgsfaktoren.
FT: Das schönste Kompliment, das man jemand machen kann, ist ungeteilte Aufmerksamkeit?
Anitra Eggler: Richtig. Einfach das Handy in der Tasche lassen. Auf der Beziehungsebene ist das ein Garant für größtes Glück und Innigkeit. Beruflich macht das Abschalten extrem effizient und die ungeteilte Aufmerksamkeit beglückt Kollegen, Mitarbeiter, Chefs und natürlich Kunden gleichermaßen. Ausprobieren!
FT: Woran erkennt man einen Handy-Zombie?
Anitra Eggler: Neulich erzählte mir ein Vortragszuhörer, er sei mit seiner Frau im Bett gelegen und habe an seinem iPad rumgemacht, bis er eine Nachricht seiner Frau, die neben ihm lag, bekam, da stand drin: „Schatz, ich liege übrigens neben dir!“ Das erklärt, warum die Geburtenrate nicht aus dem Keller kommt.
FT: Sofortnachrichten führen zu Beziehungsstress?
Anitra Eggler: Klar. Und wie! Handys generell tun das. Jeder Zweite ist eifersüchtig auf das Handy des Partners. Wir sind alle Hobby-Japaner: Wir fotografieren alles und erleben weniger, und wir sind Hobby-Stalker – wir flippen aus, wenn der Partner für Sekunden nicht erreichbar ist. Besonders arm finde ich Beziehungen, bei denen die Geo-Daten des anderen als Liebesbeweis eingefordert werden. Ich kann nur empfehlen, sämtliche Funktionen zu deaktivieren, die Auskunft darüber geben, wann man zuletzt online war, wann man eine Nachricht gelesen hat, wo man sich gerade befindet und so weiter. Die digitale Schwarmdummheit hat hier bereits zu Entlassungen und zu Scheidungen geführt. Das Ätzende ist, die Dienste verdienen ja mehr, je mehr wir kommunizieren. Das heißt: Diese Kontrollfunktionen (Paradies für Kontrollfreaks) werden immer wieder geöffnet, auch wenn wir sie abgestellt haben. Nachjustieren ist Aufwand, aber er lohnt sich.
FT: Für viele scheint das Handy eine Art Lebenspartner oder ein Partnerersatz zu sein …
Anitra Eggler: Handys können räumliche Distanz außer Kraft setzen. Das empfinde ich als Segen. Das macht Fernbeziehungen und auch die Eltern glücklich. Gleichzeitig hat diese digitale Nähe Grenzen. Werden diese permanent überschritten, wird das Handy als Ersatzbefriedigung missbraucht. Wir beginnen virtuelle Beziehungen zu führen, die der Realität nicht standhalten. Wir tippen Dinge, die wir Menschen nicht ins Gesicht sagen würden. Wir verwechseln Smileys mit Zuneigung und Herzchen mit Liebe. Damit beginnt es. Es endet meist unschön. Für viele ist das Handy auch einfach nur eine Beschäftigungstherapie. Wir müssen wieder lernen, es zu genießen, nichts zu tun, und das, was wir denken, erst mal in Ruhe für uns selbst denken und nicht sofort kommunizieren. Weniger ist mehr denn je. Am besten Sie fangen heute damit an! EOM: Abkürzung für „End of Message“ oder „End of Mail“. Wenn Sie Chats beenden möchten, bevor das 201. Herzchen-Smiley hin und her geht: „OAO“ – over and out.
VITA
Anitra Eggler
Die Autorin, Verlegerin und Rednerin wurde am 9. Juni 1973 in Karlsruhe geboren. Sie selbst bezeichnet sich gerne als Europäerin und lebt in ihrer Wahlheimat Wien. Dort schrieb sie ihre Bücher und widmet sich anderen spannenden Ideen. Anitra Eggler begann ihre Schriftstellerkarriere nach dem Abitur als Todesanzeigentexterin in Buenos Aires. Drei Jahre später folgte das Journalismus-Stipendium und der Kulturwirt. Bis 2010 arbeitete sie als eine der Ersten im E-Commerce mit diversen Firmen zusammen.
Die von der Zeitschrift „Woman“ ausgezeichnete Powerfrau änderte ihr Leben, als die Internetflut sie zu erdrücken drohte und setzte sich fortan in Büchern und auf der Bühne für einen selbstbestimmten Umgang mit den digitalen Medien und der Technik ein. Ihr letztes Buch „Mail halten!“ erschien Anfang des Jahres – auch als DVD.
www.anitra-eggler.com