Was Pflanzenschutz anbelangt, gewinnen die Alpen als wichtiges Verbreitungsgebiet aufgrund des Klimawandels immer mehr an Bedeutung. Aktuell stehen jedoch lediglich zwei Prozent des Gesamtgebiets der Alpen unter strengem Naturschutz in der Schweiz. Im Rahmen einer internationalen Studie schlagen Forschende Erweiterungen von Naturschutzgebieten vor.
Der Klimawandel zeigt sich mit jedem Jahr stärker und bringt facettenreiche Folgen mit sich. Eine davon ist, dass die aktuellen Höhengrade für Pflanzen zu warm werden und sie deswegen immer weiter in die Höhe wandern, wo kühlere Temperaturen herrschen. Daraus resultiert, dass die höheren Teile der Berge in den nächsten Jahren grüner werden. Insbesondere die Alpen werden als Biotop noch kostbarer werden, als sie es heute bereits sind. Entsprechend sollen Naturschutzgebiete in den Alpen flächenmässig erweitert oder neu bestimmt werden, denn die aktuell unter strengem Schutz stehenden Gebiete reichen nicht annähernd aus, um die aktuelle Biodiversität zu erhalten.
Eine internationale Studie unter Co-Leitung der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der ETH Zürich hat beleuchtet, in welchen Zonen der Alpen solche Gebiete am besten eingerichtet werden sollten. Die Studie umfasst das Alpengebirge länderübergreifend, weil die Natur keine Landesgrenzen beachtet. Ein internationales Forschungsteam hat digitale Karten davon erstellt, wo in den Alpen einzelne Pflanzenarten zu finden sind. Ziel ist, anhand solcher Karten zu erkennen, wie sich die Biodiversität verändern wird und entsprechend Naturschutzgebiete neu einzuplanen. Dies zu tun ist mehr als fällig, denn gemäss Forschungsergebnissen sind in den letzten 100 Jahren viele Arten im Durchschnitt bereits 20 bis 35 Meter in die Höhe gewandert.
Digitale Simulationen der Vegetation
Erstellt wurden Karten der aktuellen Situation sowie solche der prognostizierten Pflanzenverteilung, wie sie 2050 und 2080 erwartet wird. Dafür wurden Schutzgebiete unter die Lupe genommen, die vom europaweiten Netzwerk Smaragd-Natura 2000 sowie der Weltnaturschutzunion IUCN festgelegt wurden. Ausgehend von diesen bereits bestimmten Schutzgebieten wurden dann mittels digitalen Simulationen Perimeter kreiert, mit welchen die Biodiversität der Flora am besten geschützt und unterstützt werden kann. «Durch die Karten konnten wir feststellen, welche Gebiete bis 2080 aufgrund der Diversität und des Vorkommens der einzelnen Pflanzenarten am meisten zum Schutz der Pflanzenvielfalt beitragen können und die es entsprechend am meisten zu schützen gilt», sagt der französische Ökologe Yohann Chauvier-Mendes, der vor allem auf diesem Gebiet forscht und an der Studie beteiligt war.
Oft finden sich diese besonders schützenswerten Gebiete dort, wo sich zwei Vegetationszonen berühren und überschneiden, aber auch diese Zonen wandern langsam gen oben. Sie verschieben sich jedoch nicht kollektiv, als ein Vegetationsgürtel, sondern wandern die einzelnen Pflanzenarten unabhängig voneinander. Schliesslich hat jede Spezies ihre eigene Schmerzgrenze, was den Temperaturanstieg anbelangt, und verlagert sich entsprechend schnell und weit in die Höhe.
Ein stetiger Anstieg
In den Alpen kommen abgesehen von Moosen insgesamt rund 4500 Pflanzenarten vor – das ist etwa ein Drittel aller Pflanzen, die in Westeuropa zu finden sind. Davon haben 400 Gewächse keinen anderen Lebensraum als die Alpen, was die Bedeutung dieser Region für die lokale Flora unterstreicht. Die langsame aber stetige Wanderung der Pflanzen in die Höhe bedeutet auch, dass aktuell festgelegte Naturschutzgebiete in Zukunft an Bedeutung verlieren, weil sie potentiell weniger schützenswerte Pflanzen zählen werden. Oder aber, es werden neue Pflanzen in diese niedrigeren Schutzgebiete vorstossen und vielleicht werden einige davon bis dann auch wieder nur in geringen Mengen vorkommen.
Eine neue Einteilung der Schutzgebiete dürfte also nötig werden. Eine solche würde auch praktische Konsequenzen für die Nutzung der Natur mit sich bringen, vor allem in landwirtschaftlicher Hinsicht. Entsprechend wird sich das Landschaftsbild stark verändern, wenn sich zum Beispiel der Wald verlassene Weiden zurückerobert. Durch eine solche natürliche Neuverlagerung der Pflanzen können auch neue Orte entstehen, an denen die Biodiversität besonders hoch ist.
Ein ambitioniertes Ziel
Mit ihrer Studie suchen die Forschenden auch das Ziel «30 by 30» zu unterstützen. Dieses wurde am 15. Biodiversitätskongress der Vereinten Nationen festgelegt und besagt, dass bis zum Jahr 2030 in jedem Land 30 Prozent der Landesfläche als Naturschutzgebiet festgelegt werden soll. Auf ihrer Karte haben die Forschenden die Schutzgebiete in den Alpen von 18 auf rund 35 Prozent der länderübergreifenden Gesamtfläche der Alpen erhöht. Aktuell sind nur zwei Prozent der geschützten Fläche der über sieben Länder verteilten Alpen als strenges Naturschutzgebiet in der Schweiz markiert – viel weniger als in den Nachbarländern.
Weil Forschende zum Schluss gekommen sind, dass die Alpen und der Mittelmeerraum am meisten geschützt werden sollten, könnte die Schweiz mit mehr Naturschutzgebieten in den Alpen einen wertvollen Beitrag zum «30 by 30»-Ziel leisten. «Meiner Ansicht nach ist die Wahrscheinlichkeit eher klein, dass dieses Ziel erreicht wird», sagt Chauvier-Mendes. Doch findet er, dass wenn eines Tages jedes Land 30 Prozent seiner Fläche zu Naturschutzgebiet erklärt, damit ein wichtiger und wirksamer Schritt für den Umweltschutz getan sein wird.
Geschickt eingeteilt
«Bemerkenswert ist, wie klein die einzelnen Inseln der Schweizer Naturschutzgebiete sind», meint der Forscher. Die Tatsache, dass die Gesamtfläche des Naturschutzgebiets in der Schweiz stark über das Land verteilt ist, senkt deren Wirkung erheblich. Es würde also mehr Sinn ergeben, mehrere grössere Naturschutzgebiete zu bestimmen, statt viele kleine und voneinander getrennte Flecken. «Entsprechend ist es wichtig, Naturschutzgebiete möglichst zu vernetzen, also geschützte Gebiete zwischen einzelnen Naturschutzgebieten festzulegen», so Chauvier-Mendes. In vernetzten Gebieten können sich Pflanzen besser ausbreiten und mehr Orte finden, wo die Bedingungen für sie am besten passen.
Die Bedeutung der Biodiversität der Flora für Mensch und Umwelt wird oftmals stark unterschätzt: «Wir benötigen viele verschiedene Pflanzen in praktisch allen Lebensbereichen», sagt der Ökologe. Zum Beispiel brauchen wir Pflanzen fürs Essen, für Medikamente, Möbel, Kleider, Stoffe und weitere Materialien sowie für die Sauerstoffproduktion. Auch trägt Biodiversität allgemein dazu bei, dass die Vegetation resilienter ist und sich als Gesamtpaket besser an Veränderungen wie steigende Temperaturen anpasst. «Am liebsten würde ich aber diese Studie auf das gesamte Gebiet Europas erweitern und nicht nur Pflanzen, sondern das gesamte Biotop inklusive Tiere betrachten», so Chauvier-Mendes.
Eine solche Studie könnte besonders schützenswerte Gebiete bestimmen, die den grössten langfristigen Nutzen für den gesamten Kontinent und die Erhaltung der Artenvielfalt erbringen. Das Forschungsteam will die Studie erweitern und herausfinden, wie die wichtigsten Knotenpunkte geschützt werden können, an denen viele Pflanzen vorbeiwandern oder es mit den steigenden Temperaturen in Zukunft tun werden. Die Karten sollen Naturschutzorganisationen der Alpenländer eine wertvolle Orientierung zur Bestimmung von Naturschutzgebieten liefern, welche es für das Wohl des Planeten so schnell wie möglich festzulegen gilt.