Forschende der ETH Zürich haben einen neuen Weg gefunden, um Medikamente zu verabreichen. Der Saugnapf OctoPatch soll zukünftig für viele Substanzen eine schmerzfreie Alternative zur Spritze bieten. Der nächste Schritt: der Weg von der Universität zum eigenen Start-up.
Es ist eigentlich nur ein kleiner Pikser durch die oberen beiden Hautschichten. Bei der Blutspende oder den jährlichen Grippeimpfungen schauen viele dann aber doch lieber weg, wenn sich die kalte Metallnadel durch das eigene Fleisch bohrt. Und einige verzichten am liebsten ganz darauf, wenn sich die Spritze nur irgend möglich vermeiden lässt. Ungefähr drei Prozent der Bevölkerung sollen tatsächlich an Trypanophobie leiden – der Angst vor Spritzen. Doch manchmal lässt sich im Krankheitsfall die benötigte Spritze nicht umgehen. Denn längst nicht alle Medikamente und Substanzen lassen sich über die menschlichen Körperöffnungen einnehmen. Einige Stoffe sind schlicht zu gross in ihrer molekularen Struktur oder werden auf eine unerwünschte Art vom Körper abgebaut.
Ein Forschungsteam der ETH Zürich arbeitet allerdings an einer vielversprechenden Lösung, um auf eine Verabreichung von Medikamenten per Injektion in Zukunft zu verzichten. Die Forschenden Nevena Paunović und David Klein Cerrejon entwickeln derzeit einen Saugnapf, der sich an der Innenseite der Wange anbringen lässt und dort die Substanzen über die Schleimhaut in den Blutkreislauf transportiert. Ihre Kreation hört auf den Namen OctoPatch – benannt nach der tierischen Inspiration, dem Oktopus.
Die Pfefferkörner
«Das ursprüngliche Ziel war, einen schmerzfreien Weg zu finden, um Medikamente zu transportieren», erzählt Nevena Paunović. Dazu zählen etwa jene, die zur Behandlung von Diabetes Typ 2, Osteoporose oder Prostatakrebs zum Einsatz kommen. Die sogenannten therapeutischen Peptide kommen aktuell auf ein Jahresvolumen von circa 40 Milliarden Franken – ein schnell wachsendes Gebiet in der Pharmabranche.
Die Idee hinter dem Transport über die Wangenschleimhaut stammt von Zhi Luo, der damals noch unter Professor Jean-Christophe Leroux an der ETH forschte und heute selbst Professor in China ist. Bei einem Abendessen im Jahr 2019 soll ein Szechuanpfefferkorn an seiner Wangeninnenseite hängen geblieben sein und seine Schärfe durch die Schleimhaut transportiert haben. Eine Idee führte beim Forschenden der Arzneimittelformulierung und -verabreichung zur nächsten und am Ende des Prozesses entstand der erste Prototyp des Saugnapfes.
Zunächst wurden dafür ganz normale Saugnäpfe, wie sie aus dem Haushalt bekannt sind, verwendet. Allerdings haften diese schlecht an weichen oder feuchten Oberflächen. Ganz im Gegensatz zu jenen von Kraken, welche sich im Laufe der Evolution perfektioniert haben. «Das Besondere daran ist die Flaschenhalsstruktur», erklärt David Klein Cerrejon, der den Prototypen entwickelte. Die aktuelle Version des OctoPatch ist dabei rund einen Zentimeter breit und 0,6 Zentimeter hoch. Nachdem der Saugnapf an der Wange befestigt wird, haftet er dank des Unterdrucks von alleine und lässt sich später leicht wieder mit der Hand lösen. «Es ist wirklich einzigartig in der Medikamentenverabreichung, weshalb der OctoPatch bereits 2021 patentiert wurde», sagt Paunović.
Let’s go Start-up
Als Unterstützung für ihre Forschungsarbeit erhielt Paunović 2022 von der ETH ein Pioneer Fellowship. Das Stipendium umfasst nicht nur einen sechsstelligen Geldbetrag, sondern bringt eine Ausbildung und ein Mentoring im Bereich der Unternehmenswelt mit sich. Bereits Ende 2021 kam den beiden Forschenden die Idee für ein eigenes Start-up. Als Transire Bio wollen sie den OctoPatch in den kommenden Jahren bis zur Marktreife entwickeln. Auch der Name des Start-ups, dessen offizielle Gründung für Ende 2023 geplant ist, leitet sich aus dem Lateinischen von der Funktion des Produktes ab. «Wir durchdringen Barrieren», erklärt Klein Cerrejon.
Die ETH Zürich bietet den WissenschaftlerInnen zwar eine ausgezeichnete Forschungsumgebung, aber um ein Produkt wie den OctoPatch auf den Markt zu bringen, benötigt es zahlreiche weitere Studien. «Dafür braucht es eine externe Finanzierung. Also muss man ein Unternehmen gründen und selbst ein Risiko eingehen», sagt Paunović. Dafür ist man bereits in aktiven Gesprächen mit möglichen Partnern aus der Pharmabranche und potenziellen Investoren. Für 2024 ist eine erste Finanzierungsrunde geplant, die dem Start-up eine klinische Studie am Menschen ermöglichen soll.
Bisher wurde nur eine Komfortstudie mit Menschen durchgeführt, in der 40 Freiwillige den OctoPatch ohne ein Medikament testeten. «Bei der Grösse braucht es eine Balance zwischen der einfachen Anwendung und dem Komfort der PatientInnen», erklärt Klein Cerrejon. Für die aktuellen Studien produziert man den Saugnapf noch selbst per 3D-Drucker im Labor der Hochschule. Für die Zukunft arbeitet man allerdings bereits an der Skalierbarkeit des OctoPatches, damit er zu einem späteren Zeitpunkt auch als Massenprodukt gefertigt werden kann.
Forschen, forschen, forschen
Abgesehen von der Hardware und einem anwendbaren Medikament braucht es für die Anwendung des OctoPatches auch noch eine Substanz, welche die Zellmembran auflockert, damit der Wirkstoff auch in tiefere Hautschichten eindringen kann. Anschliessend löst der Speichel das Medikament auf und es kann in den Blutkreislauf gelangen. Die auflockernde Substanz besteht dabei aus körpereigenen Stoffen. «Wir wollten bei der Forschung eine natürliche Substanz wählen, damit wir ein sicheres Produkt entwickeln können», so Klein Cerrejon.
Getestet wurde die Technologie zuerst an frischem Gewebe von Schweinen aus dem Zürcher Schlachthof, um die Anzahl der Tierversuche zu minimieren. Anschliessend wurde der optimierte OctoPatch mit Medikamenten an Hunden getestet. «Die Wangeninnenseite von Hunden ist der der Menschen sehr ähnlich», erklärt der Forscher. Die Maus als klassisches Labortier eignet sich aufgrund des strukturellen Aufbaus ihrer Schleimhäute hingegen nicht für den OctoPatch. Zu den nächsten Schritten für das zukünftige Start-up gehören weitere für die Zulassung relevante Tierstudien, bevor man klinische Testversuche mit gesunden Menschen durchführen kann. Dort wird dann genau untersucht werden, wie schnell und wie viel des Medikaments im Blutkreislauf ankommt, nachdem es über den OctoPatch verabreicht wurde.
Espressotasse statt Spritze
Welches Medikament am Ende als erstes zum Einsatz im OctoPatch kommt, ist abhängig von vielen Faktoren und natürlich auch von einer möglichen Zusammenarbeit mit Pharmaunternehmen. «Am meisten Daten haben wir im Moment für Semaglutid. Dort könnten wir die Injektionen mit dem OctoPatch ersetzen», sagt Klein Cerrejon. Das Diabetes-Typ-2-Medikament ist eines von ungefähr 80 gelisteten Arzneien, welche derzeit für die Anwendung infrage kommen. Etwa ein Viertel davon könnte schon heute mit dem OctoPatch verabreicht werden.
Bis der OctoPatch tatsächlich auf den Markt kommt, könnten noch bis zu zehn Jahre vergehen. Die Pharmabranche denkt und plant langfristig und viel hängt auch vom Regulierungsweg ab. «Wenn alles optimal läuft, könnten es auch nur fünf Jahre sein», sagt Klein Cerrejon. Wenn es so weit ist, müssten PatientInnen morgens nicht mehr auf leeren Magen auf die Wirkung ihres Medikamentes warten oder den täglichen Einstich der Spritze über sich ergehen lassen. «Der OctoPatch bleibt an seinem Platz im Mund und man kann alles damit machen, was zur Morgenroutine gehört», erklären die Forschenden. Also sich anziehen oder einen Kaffee trinken und bevor man das Haus verlässt, entfernt man den OctoPatch nach einer halben Stunde wieder – völlig schmerzfrei versteht sich.