Einfach ist angenehmer als schwierig. Dies gilt auch für politische Inhalte und Argumente, beispielsweise bei Abstimmungsparolen. Das Kollektiv Zentrum für kritisches Denken aus Zürich (ZfkD) sagt jedoch: Wir müssen Komplexität aushalten. Diese Fähigkeit versuchen sie mit verschiedenen Angeboten zu fördern.
Mal Hand aufs Herz: Wann hast du zum letzten Mal mit voller Überzeugung deine Meinung geändert – aus welchen Gründen auch immer? Kommt selten vor, oder? Dies geht den allermeisten Leuten so und ist kein Zufall, sondern lässt sich wissenschaftlich begründen.
Denn unser Hirn neigt dazu, unsere Überzeugungen bestätigen zu wollen (Myside Bias), kann Ansichten nur schwer loslassen, wenn wir schon viel in sie investiert haben (Sunk Cost Effect) und hat grundsätzlich Mühe mit Veränderungen (Status Quo und Default Effect).
Bedeutet dies, dass wir alle auf unseren einmal festgelegten Ansichten beharren müssen? Keinesfalls, wenn man die Mitgliederinnen des Zentrums für kritisches Denken (ZfkD) fragt. Das Kollektiv mit Sitz in Zürich hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, das kritische Denken zu fördern.
«Die eigene Meinung zu reflektieren und das eigene Nicht-Wissen offenzulegen sind Fähigkeiten, die in einer komplexen Welt mit zig verschiedenen Lebensrealitäten besonders relevant sind. Vor allem, wenn wir ein neues Miteinander jenseits verhärteter Fronten schaffen wollen», formuliert es das ZfkD.
Der leere Raum dazwischen
Im Oktober 2019 gegründet, vermittelt und trainiert das rund 20-köpfige Kollektiv kritisches Denken in Input-Referaten und Workshops an Schulen, Institutionen und mit allen Menschen, die sich gerne in dieser Kompetenz weiterbilden möchten.
Hinzu kommen weitere Formate wie «wirmüssenreden», wo man in Kleingruppen Gefühle wie Wut, Anerkennung oder Scham auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene reflektiert, denn der Mensch ist kein rein rationales Wesen und unsere Emotionen haben enormen Einfluss auf unser kritisches Denkvermögen oder der «Club der anonymen Ahnungslosen», wo man anonym und ohne Scham Fragen zu aktuell vieldiskutieren Themen stellen kann, die dann live von Experten beantwortet werden.
Dieses Format kann auch als Entscheidungshilfe bei Abstimmungen dienen, jedoch führt das ZfkD mit «Miini Entscheidig» noch ein weiteres Angebot, welches explizit auf Abstimmungsvorlagen und deren Inhalte eingeht. Mitgründerin Andrea Pramor erklärt die Gedanken dahinter: «Der direkten Demokratie in der Schweiz sind Polarisierungstendenzen in die Wiege gelegt, denn die Bürgerinnen haben vier Mal im Jahr nur die Wahl zwischen ja oder nein, schwarz oder weiss.»
Dabei dominiere bei politischen Vorlagen oftmals der Graubereich, das «ja respektive nein, aber…». Der Inhalt der Vorlagen sei meist hochkomplex und es würde den meisten Menschen die Zeit fehlen, sich eingehend mit sämtlichen Vorlagen zu beschäftigen.
«Wir erleben im Abstimmungskampf oftmals eine starke Simplifizierung, wodurch die Debatte an einen Punkt gelangt, an dem sie der inhaltlichen Komplexität nicht mehr gerecht wird», führt Pramor aus. Die Idee hinter «Miini Entscheidig» ist entsprechend, Komplexität aushaltbar zu machen.
Das Problem mit der Zeit
Jüngstes Beispiel für Verknappung und Vereinfachung in Arena-Debatten und Kampagnen der Abstimmungs-Komitees war die Abstimmung über das Mediengesetz vom 13. Februar. Pramor sagt: «Es haben sich dabei ähnliche Muster wie in der Vergangenheit gezeigt: Es wird mehr über Zahlen und Fakten diskutiert als über die Grundsatzfragen dahinter.»
Doch: «Wir sind gar nicht in der Lage, einen Fakt komplett objektiv wahrzunehmen. Unsere Wertehaltung beeinflusst, wie unser Hirn Fakten interpretiert und gewichtet, Myside Bias genannt.»
Seit mittlerweile fünf Abstimmungssonntagen arbeiten die ZfkD-Mitglieder an einem Meinungsbildungsprozess. Co-Gründerin Alexandra Büchi begründet dieses Projekt damit, dass «uns aufgefallen ist, wie viele unserer eigenen politischen Entscheidungen gar keinen reflektierten Meinungsbildungsprozess durchlaufen haben».
Ausserdem sei es eine grosse Herausforderung, sich in der kurzen Zeit nach Erhalt der Abstimmungsunterlagen bis zum Urnengang eine fundierte Meinung zu bilden.
Kommt hinzu, dass es bei vielen Abstimmungen um die besagten Grundsatzthemen geht, «die man eigentlich behandeln müsste, um eine gute Entscheidung treffen zu können», wie Pramor ergänzt. Als Beispiele nennt sie die Parallelen bei den Abstimmungen zur Stempelsteuer und zur 99%-Initiative sowie zum Mediengesetz und zur No-Billag-Initiative.
«Bei letzteren beiden geht es um die grosse Frage der Rolle der Medien in einer Demokratie. Eine solche Frage kann nicht auf die Schnelle beantwortet werden», so Pramor. Entsprechend naheliegend sei es, sich auf Meinungen von Vorbildern oder Parteien zu stützen. Jedoch durchlaufe man auf diese Weise keinen echten eigenen Meinungsbildungsprozess.
Zu einer funktionierenden Demokratie gehört theoretisch, dass sich die Bürgerinnen intensiv mit den Themen auseinandersetzen, über die abgestimmt wird. «Damit Bürger ihr Recht auf demokratische Mitbestimmung wirklich wahrnehmen können, bräuchte es fast schon einen ein- bis zweitätigen Kurzurlaub zur Vorbereitung», meint Andrea Pramor.
Wie wir zu innerer Sicherheit kommen
Sie macht auf ein weiteres Problem der kurzen Vorbereitungszeit aufmerksam. Dadurch, dass die Abstimmungsthemen nur für einen kurzen Zeitraum in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, sei es für die politischen Akteure umso schwieriger, die Graubereiche zu thematisieren und argumentative Zugeständnisse zu machen – geschweige denn, ihren Standpunkt zu ändern.
Dadurch komme es während des Abstimmungskampfs oft zu einem Wiederholen von festgelegten Parolen, ergänzt Alexandra Büchi.
Kann man von den Bürgerinnen überhaupt erwarten, sich eine fundierte Meinung zu bilden? Es kommt darauf an, meint das ZfkD. Denn je nach Lebensrealität hätten Menschen mehr oder weniger Ressourcen sowie unterschiedlichen Zugang zu politischem Wissen und gesellschaftlichen Themen.
Andrea Pramor betont: «Zudem ist eine kritische Meinungsbildung, die verschiedene Sichtweisen einbezieht, zeitintensiv und erfordert innere Sicherheit, um die Komplexität, die damit einhergeht, überhaupt aushalten zu können.»
Sie spricht in diesem Zusammenhang die drei Ebenen an, wie man innere Sicherheit kultivieren kann. Eine davon ist, dass man das eigene Nervensystem und die damit zusammenhängenden Emotionen gut regulieren kann.
Die zweite Ebene setzt einen achtsamen Umgang mit den eigenen Gedanken voraus: Kann ich mir selbst zu hören – auch dann, wenn meine Gedanken unangenehm oder widersprüchlich sind? Ebene drei bilden starke Beziehungen und Bindungen. Kommen diese drei Pfeiler zusammen, äussert sich dies in innerer Sicherheit, die das Gerüst bildet, um die Suche nach einfachen und schnellen Antworten aufzugeben.
Keine unlösbare Aufgabe
Wenn wir anerkennen, dass es gar nicht so einfach ist sich eine eigene Meinung zu bilden, zeigt sich die grosse Herausforderung für ein demokratisches System mit vielen Volksabstimmungen.
Alexandra Büchi erinnert in diesem Kontext daran, dass es nicht nur um eine einseitige Erwartung an die Bevölkerung geht, sondern auch bei uns Bürgerinnen das Bedürfnis existiert, Informationen richtig einordnen zu können. «Die Coronapandemie zeigt dies exemplarisch auf. Plötzlich standen wissenschaftliche Akteure im Scheinwerferlicht und wir mussten wissenschaftliche Aussagen einschätzen und kontextualisieren.»
Und Andrea Pramor macht allen Mut, die nun den Kopf in den Sand zu stecken drohen: «Auch viele vom ZfkD hatten vor der Pandemie ein undifferenziertes Wissenschaftsverständnis und wir sind immer noch dabei, zu verstehen, wie Wissenschaft genau funktioniert.
Etwas, das uns in dem Zusammenhang bewusst geworden ist: Es ist nicht leicht, ‹Ich weiss es nicht zu sagen›, aber in einer komplexen Welt könnte diese Ehrlichkeit ein guter erster Schritt Richtung neues Miteinander sein.»
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