Vor 40 Jahren wurde «Die Rodtegg – Stiftung für Menschen mit körperlicher Behinderung» in Luzern eröffnet. Das grosse Jubiläumsfest findet coronabedingt zwar erst nächstes Jahr statt. Doch eine neue Roadshow macht bereits im September im Sekundarschulhaus Utenberg zum ersten Mal halt.
Es war im August 1980, als das «Sonderschulheim in der Rodtegg» an der Rodteggstrasse 3 in Luzern in seinen neuen Gebäuden den Betrieb aufnahm. Die Einweihung fand dann am 21. Mai 1981 unter grosser öffentlicher Resonanz statt. 40 Jahre später heisst die Institution mittlerweile «Die Rodtegg – Stiftung für Menschen mit körperlicher Behinderung». Auch sonst hat sich viel getan, das Angebot wurde seither stetig ausgebaut.
Doch dazu später, denn immerhin kann in diesem Jahr ja ein Jubiläum gefeiert werden. Ob das zu Pandemiezeiten überhaupt möglich ist? Jein. Das eigentliche Fest und mit ihm die meisten geplanten Aktionen wurden auf den 11. Juni 2022 verschoben. Dazu gehören neben internen Jubiläumsanlässen eine Podiumsdiskussion, im Rahmen derer prominente Personen die «Zukunft der Behinderung» debattieren und ein eigenes Museum namens «Weisch no?».
Helmut Bühler ist seit September 2019 Direktor der Stiftung Rodtegg. Er erklärt, was der Hintergedanke des Museums ist: «Während das Fest für die Öffentlichkeit grundsätzlich an einem Tag über die Bühne gehen wird, wird das Museum auf jeden Fall etwas länger bleiben.
Durch Fotos, Informationstafeln und Gegenstände wie alte Hilfsmittel zur Kommunikation sowie erste Sprachcomputer sollen Erinnerungsmomente geschaffen werden.» Ehemalige Klienten, Schülerinnen und Mitarbeiter können sich treffen und gemeinsam alte Momente aufleben lassen. Eine Theatereigenproduktion schlägt ausserdem die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart.
Nicht alles muss verschoben werden
Ein bisschen Jubiläumsstimmung kommt jedoch schon dieses Jahr auf. Im Rahmen der «Roadshow Rodtegg» fahren Mitarbeitende mit einem Rodtegg-Bus auf die Schulhöfe hinaus und arbeiten mit Lernenden der Sekundarschule zu Themen der Beeinträchtigung. Die Roadshow startet mit Beginn des neuen Schuljahres am 7. September im Sekundarschulhaus Utenberg.
Bühler freut sich zudem bereits auf den Herbst, wenn am 12. September der Luzerner Stadtlauf über die Bühne gehen wird. Denn: Die Stiftung Rodtegg fungiert in diesem Jahr als Solidaritätspartner des Volksanlasses. Das Geld des Solidaritätslaufs wird entsprechend der Stiftung zugutekommen.
Einst «nur» für Kinder
Als an der Rodteggstrasse vor 40 Jahren die Tore geöffnet wurden, handelte es sich um eine Schule plus Wohnheim für körperlich beeinträchtigte Kinder. Seither hat die Stiftung Rodtegg eine rasante Entwicklung hingelegt. So beschränkt sich das Angebot nicht mehr nur auf Kinder.
Eine «Bürowärkstatt» und -fachschule kamen dazu wie auch Wohnstudios für Erwachsene: Im Rahmen des Angebots «18+» leben erwachsene Menschen mit mehrfacher Beeinträchtigung. Eine Wohngruppe besteht aus sechs Personen, wobei pflegerische Begleitung und intensive Betreuung rund um die Uhr gewährleistet sind.
Bühler betont, wie wichtig es der Stiftung sei, dass ihre Klientinnen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Ein zentraler Teil davon ist, dass die Tagesstruktur nicht nur das Wohnen einschliesst, sondern auch die Bereiche Freizeit und Beschäftigung. In Ateliers sollen die Kreativität und die musische Seite gefördert werden. Einige der hergestellten Produkte werden anschliessend im Shop verkauft.
Die Tür steht offen
Helmut Bühler erwähnt ein weiteres zentrales Element für ein selbstbestimmtes Leben: die Arbeit. Die Stiftung Rodtegg bietet in ihrer «Bürowärkstatt» sowohl ihren Bewohnern, als auch externen Klientinnen einen Arbeitsplatz an. Bei der «Bürowärkstatt» handelt es sich um einen kompletten Bürodienstleister, der unter anderem die Buchhaltung für Vereine und KMU führt, Sekretariatsarbeiten erledigt, Bestellungen administriert und Versandarbeiten ausführt.
Die Stiftung Rodtegg in Zahlen Total nutzen rund 120 Klienten die Angebote der Stiftung Rodtegg. Rund 70 Schülerinnen besuchen die Rodtegg, davon sind 12 bis 14 Schüler ausserdem Bewohner des Internats. In der «Bürowärkstatt» arbeiten 30 Klientinnen, davon sind rund die Hälfte Bewohnerinnen der Rodtegg. Ausserdem nutzen 18 erwachsene Personen mit einer Beeinträchtigung das Wohn- und Beschäftigungsangebot «18+». Abgesehen von der «Bürowärkstatt» ist die Rodtegg aktuell voll ausgelastet. Es arbeiten etwas über 300 Personen in knapp 30 Berufen in der Institution.
Es komme auch vor, dass Klientinnen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können. Doch sei dies die Ausnahme. «Die Tendenz muss klar in die Richtung gehen, Menschen mit einer Beeinträchtigung so gut als möglich zu integrieren – doch gibt es dabei auch Grenzen.
Aus diesem Grund sind stationäre Angebote weiterhin wichtig», erklärt Bühler. «Wir haben und hatten Klienten, die – falls irgendwie machbar – ein Leben ohne stationäre Einrichtung bestreiten möchten. Deswegen versuchen wir auch, die Türe sozusagen in beide Richtungen offenzuhalten.»
Die Stiftung Rodtegg stellt für ihre erwachsenen Klientinnen nicht nur Arbeits- sondern auch Ausbildungsplätze bereit. In der Bürofachschule Luzern bietet sie eine Ausbildung zum Büropraktiker PrA an. Diese dauert zwei Jahre und bereitet die Lernenden mit besonderem Unterstützungsbedarf auf die beschriebenen Arbeitstätigkeiten vor.
Kein Unterricht im klassischen Sinne
Ähnlich wie bei den Arbeitsplätzen verhält es sich bei der Separativen Sonderschule (SeS). Das Wocheninternat mit 12 Plätzen ist für einige Familien ein wichtiges Entlastungsangebot. Die meisten Lernenden besuchen die Schule extern und pendeln mit dem Rodteggtransport vom Wohnort zur Rodtegg.
Bei der SeS wird die individuelle Förderung der Kinder grossgeschrieben. Bühler führt aus: «Mit klassischem Frontalunterricht hat dies nichts zu tun. Jedes Kind hat einen eigenen Förderplan.» Pro Raum seien es meist vier bis sechs Kinder, die von zwei bis drei Lehrpersonen beziehungsweise Assistenten betreut werden.
Entsprechend steht auch nicht eine jahrgangsbasierte Einteilung im Vordergrund, sondern bilden der individuelle Förder- und Pflegebedarf sowie die kognitiven Fähigkeiten die Hauptkriterien.
Zur SeS kommt die Integrative Sonderschulung (IS) hinzu. Die Lernenden der IS des Bereiches Körper, Motorik, Gesundheit besuchen die Schule an ihrem Wohnort. Die Rodtegg leistet hierbei die heilpädagogische Fachberatung der IS-Lehrpersonen.
Die Herausforderungen werden nicht weniger
Die Stiftung Rodtegg ist sich bewusst, dass auch sie sich immer weiterentwickeln und mit der Zeit gehen muss, erweitert deswegen auch regelmässig ihre Angebotspalette. Aktuell ist sie daran, die ambulanten Dienste auszubauen.
Einerseits auf eigenen Wunsch, auf der anderen Seite ist in der Strategie des Kantons festgehalten, das selbstbestimmte Leben zu fördern, wobei die ambulanten Angebote dazu beitragen sollen. «Ein Teil der Angebote wie Beratungen oder Physiotherapie existieren schon, andere befinden sich noch im Aufbau», so Bühler.
Auch sonst macht sich der ehemalige Rektor des Fach- und Wirtschaftsmittelschulzentrums Luzern Gedanken zur Zukunft der Rodtegg. Er erinnert an den demographischen Wandel, auch Menschen mit einer Beeinträchtigung werden dank des medizinischen Fortschritts immer älter. «Die Palliative Care wird auf jeden Fall an Bedeutung gewinnen, weswegen wir mit entsprechenden Angeboten darauf reagieren müssen», ist Bühler überzeugt.
Ausserdem gelte es, mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten – so habe den Menschen mit einer Beeinträchtigung die Kommunikation dank neuer Technologien stetig erleichtert werden können. Doch müssten die Klientinnen im Umgang mit unterstützter Kommunikation auch entsprechend geschult werden – dafür braucht es das nötige Fachwissen.
Videocalls statt Besuche
Die vergangenen Monate hat jedoch ein anderer Faktor das Leben in der Rodtegg massgeblich verändert: Die Coronapandemie. Bühler gibt zu, dass die Zeit nicht einfach gewesen ist. «Wir waren von den Massnahmen relativ stark betroffen, doch haben wir die Probleme gemeinsam, mit grosser Vorsicht und dem nötigen Respekt angepackt.
Mit diesem Rezept sowie konsequentem Testen haben wir es auch geschafft, sämtliche Ansteckungsketten früh zu unterbinden.» Während die Schule und die «Bürowärkstatt» genauso wie das Restaurant während des ersten Lockdowns geschlossen waren und auch die Therapieangebote eingeschränkt werden mussten, lief der Betrieb im Wohnbereich weiter.
Als die Klienten ihre Angehörigen nicht treffen durften, sei dies für die ganze Institution belastend gewesen. «Wir waren gefordert, damit die Stimmung nicht in den Keller sinkt», so der Direktor.
Ein Mittel gegen den Koller: Den Kontakt mit Familie und Freunden via Videocalls und per Telefon aufrechtzuerhalten. Ausserdem war die Empathie der Betreuungspersonen umso wichtiger. Mittlerweile sind Besuche im kontrollierten Rahmen zugelassen.
Viele weitere Geschichten findest du in unserem E-Paper.