Christoph Zingg leitet seit zehn Jahren das Sozialwerk Pfarrer Sieber und koordiniert die verschiedenen Standorte in Zürich. Im Interview spricht der Pfarrer über die Herausforderungen in Coronazeiten, das Erbe von Pfarrer Sieber und die Möglichkeiten, die sich mit dem Neubau Glaubten-Areal ergeben.
Ob Sune-Egge, Pfuusbus, Brothuuse oder Nemo – das breite Angebot des Sozialwerks Pfarrer Sieber (SWS) hilft Menschen in Not. Rund 180 Mitarbeitende sorgen an den Standorten in und um Zürich dafür, dass das Erbe von Pfarrer Ernst Sieber weiterlebt. Mit dem Neubau bei der Kirche Glaubten will das Sozialwerk seine Zukunft aktiv gestalten und erstmals einen zentralen Standort schaffen. Genaueres verrät Gesamtleiter Christoph Zingg im Interview.
Herr Zingg, das Sozialwerk Pfarrer Sieber wirbt mit dem Slogan «Auffangen – Betreuen – Weiterhelfen». Was hat es damit auf sich?
Christoph Zingg: Das ist mal ein Ausspruch gewesen, der beschreibt, wie wir zu arbeiten versuchen. Es beschreibt den Weg, den ein Mensch in einer schwierigen Situation mit uns machen kann. Dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Strasse haben, bei uns eine Anlaufstelle finden.
Dass man erst einmal einen Ort findet, an dem man schlafen kann. Und dass daraus vielleicht eine Beziehung entsteht, die dann in ein Wohnprogramm führen kann. Wir haben ein kleines Spital, das auf der Spitalliste steht. Dort können wir Leute, die medizinische Betreuung benötigen, aber gleichzeitig suchtkrank und damit schwierig im Umgang sind, betreuen.
Und wir haben eine Reha-Station für Menschen, die aus der Sucht aussteigen möchten. Denen können wir helfen. In diesem Sinne beschreibt «Auffangen – Betreuen – Weiterhelfen» einen Weg, den Menschen, die mit uns in Kontakt treten, mit uns zusammen gehen können.
Das letzte Jahr war auch für Ihr Sozialwerk ein besonderes. Welchen zusätzlichen Herausforderungen mussten Sie sich aufgrund der Coronapandamie stellen?
Es hat ein paar gegeben. Die erste Herausforderung war, dass wir Mitte März 2020 den Pfuusbus schliessen mussten. Das war für die Betroffenen schlimm, die auf diesen Ort angewiesen sind. Das ist auch für uns schwierig gewesen, weil wir dort mit vielen Menschen den ersten Kontakt haben.
Und für mich persönlich war es eine Herausforderung, denn das ist eine Schlagzeile, die ich nicht sehen will: «Sieber schliesst Pfuusbus». Das trifft ins Mark. Wir haben dann zwei Anlauf- und Notschlafstellen geschlossen und kombiniert, um auf dem Pfuusbus-Areal einen 24/7-Betrieb aufzubauen. Wir stellten zusätzlich Zelte auf, die nicht bewilligt waren. Das haben wir einfach gemacht. Wir haben eine Schleuse eingerichtet sowie ein Sicherheitskonzept erstellt und umgesetzt.
Damit wir Menschen, die Anzeichen für eine Covid-Erkrankung zeigen, nicht fortschicken müssen. Innerhalb von sieben Tagen waren wir wieder betriebsfähig, das war eine extreme Erleichterung für uns. Wir merkten, dass unsere Bewohner und Gäste selbst sehr, sehr achtsam sind. Sie wissen, ein Infekt kann in ihrer derzeitigen Situation ihr Leben beenden.
Das heisst, sie haben sich noch mehr zurückgezogen. Und was ich am wenigsten erwartet hätte, war, dass wir ein Rekordspendenjahr haben würden. Die Solidarität mit uns und unseren Leuten war sensationell. Das sind Menschen, die die Krise ebenfalls zu spüren bekommen. Und die haben sich unglaublich solidarisch mit uns gezeigt.
Gab es ein Gefälle bei den Spenden oder waren sie im Vorjahr konstant?
Sie waren konstant hoch. Bereits im Frühling lagen sie weit über den Erwartungen. Der Advent ist unsere Hauptspendenzeit. Sie war 20 Prozent besser als im Jahr davor. Und es geht auch dieses Jahr so weiter. Ich kann mir das nicht so richtig erklären. Anderen Hilfswerken wie der Caritas ging es ähnlich. Die Solidarität war und ist insgesamt gross.
Ist der Pfuusbus aktuell in Betrieb?
Ja. Aus dem Provisorium heraus überlegten wir uns, wie wir uns für die aktuelle Saison aufstellen. Sprich, wie der Pfuusbus aussehen kann, damit wir ihn nicht erneut schliessen müssen. Das neue Konzept funktioniert mit zwei Zelten. Das Vorzelt ist für Aufenthalt und Verpflegung und dann gibt es noch das Schlafzelt, in dem wir die Leute unter Berücksichtigung aller Sicherheitsauflagen unterbringen können.
Auch in einer mobilen Notfallschlafstelle sollte es einigermassen menschenwürdig zugehen. Das konnten wir jetzt realisieren. Wir haben in diesem Frühjahr bisher einen ruhigen Betrieb, obwohl die Leute unter Druck sind. Und vor allem: Wir haben keine Coronafälle. Vielleicht ist es der sicherste Platz in der Stadt Zürich.
Was beileibe nicht selbstverständlich ist.
Genau, und wir arbeiten ja mit Freiwilligen. Das sind hochmotivierte Leute, die machen das sehr gut. Aus den Erfahrungen vom Frühling konnten wir etwas kreieren, was auch langfristig Bestand hat.
Wir haben Schleusen, durch die die Leute durchmüssen. Rein darf, wer negativ getestet ist. Wenn der Test positiv ist, kommen sie bei uns ins Spital in eines der Covid-Betten. Ich will nicht sagen, dass wir alles besser machen, aber was wir machen, das machen wir gut.
Und es wird von den Beteiligten mitgetragen. Das ist etwas Besonderes, weil es oftmals Menschen sind, die sich kaum an Regeln halten. Es ist schwierig, ihnen klarzumachen, dass auch bei uns Regeln gelten.
Fallen derzeit mehr Menschen durch das soziale Netz?
Ich würde es so sagen: Die, die durchfallen, sieht man im Moment noch gar nicht. Es werden Leute sichtbar, bei denen wir bereits gewusst haben, dass es die gibt. Das sind aber keine neuen Probleme. Wenn jemand in Kurzarbeit kommt, dann erhält er nur 80 Prozent seines Lohns. Wenn der Lohn vorher schon knapp war, dann wird es schnell schwierig – mit der Miete, den Steuern, der Krankenkasse.
Dann verliert vielleicht jemand seinen Job und mit dem Job verschwindet in der Coronazeit in der Regel auch die Arbeitsstelle. Die Stellen kommen nicht einfach zurück. Ich glaube, wirklich sichtbar werden die, die zu Schaden kommen, erst im Moment, wenn Sie und ich eigentlich nicht mehr über die Pandemie reden. Das System ist nicht schlecht, aber die Zugänge sind zum Teil sehr schwierig.
Gerade für Leute, die zum Beispiel einen ungeklärten Status haben, der Sprache nicht mächtig sind oder sich vor der Bürokratie fürchten. Sozialhilfe ist für mich erniedrigende Bürokratie. Man wird bis auf die Knochen ausgezogen. Es gibt Leute, die aus diesen Gründen sagen: «Hey nein, nicht mit mir.» Und wir arbeiten mit den Leuten daran, dass sie sich doch ins System integrieren.
Was macht der Virus mit den Menschen?
Sie sind verunsichert. Es ist eine Situation, die wir mit allen Massnahmen und politischen Diskussionen nicht unter Kontrolle haben. Der Virus hat uns unter Kontrolle und das setzt Urängste frei. Das sieht man dann auch an den Leuten, die irgendwelchen Verschwörungstheorien verfallen oder sich eine Lesart zurechtlegen, um mit der gesamten Situation leben zu können.
Es verunsichert auch physisch, denn wir sind Beziehungswesen. Wir brauchen es, dass wir uns umarmen und riechen können, die alltäglichen Berührungen. Ich habe das Gefühl, wir verarmen auf der einen Seite, auf der anderen Seite lernt man natürlich auch ganz viel. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch gleichzeitig ist er auch hochanpassungsfähig.
Unterm Strich ist meine Erfahrung: Die Leute sind dünnhäutiger, sie sind ungeduldiger und schneller gereizt. Das merke ich auch bei unseren Mitarbeitern, vor denen ich einen Riesenrespekt habe, die trotz allem hochmotiviert arbeiten. Ich glaube, es bleibt sehr viel menschliche Kompetenz auf der Strecke.
Ich habe das Gefühl, wir werden in dem, was uns als Menschen auszeichnet, beschnitten. Wir entwickeln neue Kompetenzen, aber inwieweit die uns dann weiterbringen, weiss ich jetzt noch nicht. Insgesamt merke ich, die Leute drohen innerlich zu verarmen.
Ein anderes Thema: Ihr Leuchtturmprojekt im Kreis 11 in Affoltern. Welche Bedeutung hat dieser Neubau auf dem Areal der Kirche Glaubten für das Sozialwerk Pfarrer Sieber?
Das ist ein Quantensprung. Es ist dringend nötig, weil wir sonst unser Spital irgendwann schliessen müssten. Unser Spital in der Konradstrasse ist eigentlich ein Wohnhaus, das wir als Spital betreiben. Und dort geht es heute eigentlich nicht mehr. Es geht von den Arbeitsbedingungen, der hygienischen Linie sowie von den Arbeitsabläufen her nicht. Wir müssen also zwingend etwas ändern.
Wir haben von allen Seiten Handlungsbedarf und darum bauen wir neu. Der Quantensprung ist, dass wir zum ersten Mal sagen können, was wir eigentlich brauchen. Sieber funktionierte bis jetzt nach dem Opportunitätsprinzip. Unserem Stiftungsgründer hat man ein Haus, eine Siedlung oder eine Wohnung angeboten und dann hat er etwas daraus gemacht. Wir müssen also lernen, umzudenken.
Bevor wir ein Haus annehmen, müssen wir uns wirklich fragen: Was brauchen wir eigentlich? Wo ist Bedarf? Und dann, auch das ist ganz natürlich, geht das Wunschkonzert los: Wie sieht das Spital aus? Wir haben die Mitarbeiter befragt und die Liste ist sehr lang gewesen. Wir mussten schauen, was wir uns leisten können und was Sinn macht.
Der Neubau vereint mehrere Ihrer Standorte. Welche Konsequenzen folgen daraus?
Wir werden von einer stark dezentralen Organisation zu einer zentralen. Auf dem Areal sind dann das Spital, Wohnungen, Kommunikation und Administration. Also Leute, die vorher grösstenteils mit dem Telefon kommuniziert haben, sind dann alle unter einem Dach. Das wird eine Herausforderung. Es stellt sich auch die Frage, wie wir uns kulturell organisieren, damit sich die anderen Standorte nicht abgehängt fühlen.
Jeder und jede, die beim SWS arbeitet, soll das Gefühl haben, dazuzugehören und willkommen zu sein im neuen Gebäude. Es ist auch finanziell eine grosse Herausforderung. Unser Teil für den Ausbau ist zwar finanziert, aber alles was nachher kommt, wird eine finanzielle Herausforderung. Nichtsdestotrotz ist es ein Projekt, das uns langfristig hilft. Wenn die zentralen Elemente funktionieren, haben wir ein neues Gesicht nach aussen.
Einen Ort, wo man weiss: Da ist Sieber. Wir werden sichtbarer. Und der letzte Punkt: das noch engere Zusammenkommen mit der reformierten Kirche, aus der heraus wir gewachsen sind. Das eröffnet Chancen in der Wahrnehmung, in der Kommunikation und Zusammenarbeit. Das wird eine andere Qualität und auf die freue ich mich.
Ende 2024 läuft der Mietvertrag von Ihrem bisherigen Wohnheim aus. Drohen Sie unter Zeitdruck zu geraten, wenn sich der Bau verzögert?
Dann bekommen wir ein Problem und müssten uns eine Alternative überlegen. Was wir schon mit Brothuuse vor elf Jahren erlebt haben, ist, dass die Anwohner sehr achtsam sind. Um Einsprachen entgegenzuwirken, sind wir dort zu den Anwohnern gegangen und haben versucht, Fragen zu beantworten und Ängste ernst zu nehmen.
Was wir dort gelernt haben, ist in unser jetziges Konzept eingeflossen. Durch den Austausch mit den Menschen vor Ort entstehen auch neue Ideen. Wir haben eine gute Nachbarschaft da oben. Menschen, die so etwas wie unseren Neubau in ihrer Umgebung zulassen, verdienen Respekt. Sie leisten einen unschätzbaren Beitrag für das gesellschaftliche Zusammenleben.
Veränderung muss ja nicht schlecht sein.
Muss sie nicht. Man muss die Leute einfach mitnehmen. Wir hören oft: «Das ist super, was ihr da macht, aber bitte nicht in meiner Nachbarschaft.» Das ist so ambivalent. Wo sollen wir denn hin? Mitten in den Wald? Aber wie gesagt: Wir vertrauen unseren neuen Nachbarn. Wenn jetzt nichts mehr passiert, sollte es möglich sein, Mitte 2024 dort einzuziehen.
«Ich wollte nicht der neue Pfarrer Sieber werden.»
Machen Sie sich oft Gedanken über das Erbe von Pfarrer Sieber?
Mit dem Namen Sieber arbeiten zu dürfen, ist natürlich ein Riesenprivileg und gleichzeitig auch eine Herausforderung. Ein Privileg, weil man Freiheiten hat. Sieber heisst, man darf auch mal Regeln brechen und kreativ sein. Insofern ist es ein Vermächtnis, was ich sehr schätze.
Ich sage meinen Mitarbeitern immer: «Wir sind Pfarrer Sieber, wir alle miteinander.» Das heisst nicht, dass jeder wie Pfarrer Sieber reden muss oder dass wir uns alle Bärte wachsen lassen. Aber es geht um die Gesinnung, das Fokussieren auf die Menschen in Not. Das ist etwas, was uns verbindet. Die Bereitschaft, auch mal eine Zusatzschlaufe zu machen und mal etwas mehr zu investieren.
Als wir im November den neuen Pfuusbus in Betrieb nahmen, fragte mich ein Mitarbeiter: «Meinst du, dem Pfarrer würde das gefallen?» Ich ersten Moment war ich mir nicht sicher.
Einerseits ist es richtig, was wir da oben machen. Es dient dem Schutz von Gästen und Mitarbeitenden, es ist menschenwürdig. Und was menschenwürdig ist, ist auch sieberwürdig. Aber Sieber ist Matratze an Matratze, dicht an dicht, kuschelig und «dörflig». Sieber ist Solidarität unter den Beteiligten, was heute angesichts der vielen Belastungen, die die einzelnen Menschen mitbringen, auch nicht mehr so einfach ist.
Die Leute sind zum Teil so gezeichnet, die denken wirklich nur an sich. Denen muss man nicht Solidarität verordnen. Was wir machen, ist Sieber weiterzuentwickeln, mit dem Menschen als Mittelpunkt.
Wie lange sind Sie schon Geschäftsführer vom Sozialwerk Pfarrer Sieber?
Jetzt sind es zehn Jahre. Ich habe immer klar gemacht, dass ich nicht Pfarrer Sieber bin. Ich bin ich, mit dem was ich bin und kann. Ich wollte nicht der neue Pfarrer Sieber werden. Und ich glaube, das hat er geschätzt. Die Notschlafstelle Iglu für europäische Wanderarbeiter, welche wir 2013 eröffneten, war meine Idee.
Es war aber klar, dass Pfarrer Sieber die eröffnet. Damit hatte ich kein Problem. Pfarrer Sieber hat gespürt, dass er sich auf mich verlassen konnte, ohne dass ich ihm die Show stehle. Wir haben uns oft gezofft, aber nie in der Öffentlichkeit. Und in der Auseinandersetzung habe ich auch von ihm gelernt.
Zum Beispiel, was Haltungsfragen betrifft. Das unbedingte Ja zu jedem Menschen. Seine Intensität, seine Kompromisslosigkeit – das muss man erlebt haben. Ich trage da bis heute etwas mit mir, insofern ist er mir immer noch nahe.
Was war Ihr schönstes Erlebnis im vergangenen Jahr?
Es gibt ein grosses und ein feines Erlebnis. Das grosse ist, wie wir zusammengestanden haben. Der letzte Sommer war für mich wie eine Ernte der vorherigen Arbeitsjahre, in denen wir als Organisation immer mehr zusammengewachsen sind. Diese Art der Zusammenarbeit wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen.
Dass das Werk unter Druck so gut funktioniert und dies am Ende des Tages auch vom Spender belohnt wird. Das ist für mich eine Riesenbestätigung gewesen. Das feine Erlebnis war, dass ich bei einem Radiointerview nach meinem Weihnachtswunsch gefragt wurde. Ich wünschte mir einen Christbaum vor dem Pfuusbus.
Vier Tage später stand bei uns ein wunderschöner Weihnachtsbaum vor der Notschlafstelle und es war der vielleicht schönste Christbaum der ganzen Stadt. Es war etwas Versöhnliches zum Jahresende.
Was wünschen Sie sich für das aktuelle Jahr?
Ich wünsche mir, dass die Kraft langt, bis die Pandemie zu Ende ist. Oder so weit, dass man sagen kann, sie ist integriert. An ein Ende glaube ich nicht. Es wird wohl eine andere Normalität sein als die, wie wir gewohnt sind.
Und was ich mir auch ganz fest wünsche, ist, dass wir so nah an der Szene bleiben können, dass wir die Opfer der Pandemie frühzeitig wahrnehmen. Sie richtig wahrnehmen und ihnen dann auch richtig helfen können. Ich wünsche mir, dass wir mutig sind, unseren Standpunkt weiterhin vertreten und auch mal sagen: «So geht es nicht!»
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