Zivilcourage ist überall dort gefordert, wo Menschen von anderen genötigt, verunglimpft, bedroht, gemobbt oder angegriffen werden – ob mit Worten oder tätlich. Doch was bedeutet Zivilcourage in der heutigen Zeit von Dynamik und Social Media überhaupt? Und ist Zivilcourage lernbar?
Du läufst abends bei einbrechender Dunkelheit beim Skatepark vorbei, weil dort der kürzeste Nachhauseweg durchführt. Dabei beobachtest du, wie eine Gruppe Jugendlicher einen anderen Teenager anpöbelt und hin- und herschubst.
Wie reagierst du nun? Passierst du die Szenerie möglichst rasch und hoffst, dass die Jugendlichen nicht auf dich aufmerksam werden? Gehst du zur Gruppe hin und fragst, was hier los ist? Hältst du dich im Hintergrund und rufst die Polizei?
Es ist dies eine klassische Situation, die Zivilcourage erfordert. Um in diesem Sinne handeln zu können, braucht es allerdings persönlichen Mut, da das Einschreiten mit gewissen Risiken für die handelnde Person verbunden ist. Ausserdem orientiert sie sich in diesem Moment an demokratisch-zivilgesellschaftlichen Grundwerten.
Dies sind gemäss der Soziologin Gertrud Nunner-Winkler die zwei wesentlichen Merkmale von Zivilcourage. «Es bedeutet, nicht wegzuschauen, sondern sich einzumischen», ergänzt Margarete Boos. Sie ist Leiterin der Abteilung für Sozial- und Kommunikationspsychologie an der Universität Göttingen. Hinzuschauen sei auch in alltäglichen Situationen gefordert wie bei Mobbing in der Schule respektive am Arbeitsplatz oder bei sexistischen und rassistischen Witzen und Bemerkungen.
Keine Selbstverständlichkeit
Zivilcourage kann freilich nicht nur aus sich spontan ergebenden Situationen heraus entstehen, sondern auch im Falle von struktureller Gewalt. Zum Beispiel bei institutioneller Benachteiligung von Personengruppen, wenn geplante und strategische Zivilcourage gefordert ist – unter anderem mit rechtlichen und/oder publizistischen Mitteln.
Der soziale Mut, den man aufbringen muss, deutet bereits darauf hin, dass Zivilcourage nicht selbstverständlich ist. Dies untermauert auch der «Zuger Preis für Zivilcourage», der jährlich von der Sicherheitsdirektion an Personen vergeben wird, die sich im vergangenen Jahr für ihre Mitmenschen und deren Sicherheit eingesetzt haben.
Heuer fand die Verleihung am 3. Juni in Oberägeri statt (nach Redaktionsschluss). Dass ein solcher Preis seine Berechtigung hat, zeigt nicht nur der Wortteil «Courage», was impliziert, dass man sich durch sein Handeln einem gewissen Risiko aussetzt, sondern seien auch Vorbilder wichtig und hilfreich für das Lernen, wie die Lernpsychologie zeige, so Margarte Boos. Denn Zivilcourage ist durchaus lernbar.
Man muss kein Held sein
Daneben haben Professorin Veronika Brandstätter-Morawietz und ihre KollegInnen von der Universität Zürich in verschiedenen Studien die Eigenschaften von HelferInnen untersucht. Sie stellten fest, dass diese sich vor allem durch drei Persönlichkeitsmerkmale auszeichnen, wobei die Charaktereigenschaften meist ineinandergreifen: Empörung, wenn soziale Regeln nicht eingehalten werden, Empathie sowie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein.
Um sich die Werkzeuge der Zivilcourage anzueignen, bieten verschiedene Institutionen und Vereine Kurse an. Darunter auch gggfon («gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus»), ein Informations- und Beratungsangebot, das sich den Themen Rassismus, Gewalt im öffentlichen Raum und Rechtsextremismus widmet.
Es wird von rund 40 Berner Gemeinden sowie finanziell vom Kanton für den Diskriminierungsschutz unterstützt. Im September findet in Wabern in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Köniz und der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Köniz der nächste Zivilcourage-Kurs statt. Dies unter anderem unter der Leitung von Giorgio Andreoli, Gründer von gggfon.
Ihm ist wichtig, zu betonen, dass Zivilcourage nicht mit Heldentum gleichzusetzen ist und im Kleinen beginnen kann, indem man aufsteht und sich wehrt, wenn einem etwas missfällt oder Ungerechtigkeit geschieht. Gerade Jugendliche seien offen dafür, ihr Verständnis für sozialen Mut in Kursen zu schärfen. «Sie sind im Inbegriff, ihren Anspruch an sich selbst für Gerechtigkeit zu entwickeln und lernen, wie sie durch ihr Engagement etwas ändern können», so Andreoli.
In Rollenspielen den Ernstfall simulieren
In den Kursen lernen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einem geschützten Rahmen und mit Rollenspielen, Situationen richtig einzuschätzen, zu helfen, ohne sich und andere zu gefährden und sich Respekt zu verschaffen, ohne selbst Gewalt anzuwenden. «Dabei ist wichtig, nicht nur die Möglichkeiten gewaltfreier Kommunikation aufzuzeigen, sondern auch die Grenzen. Beispielsweise, wenn Waffen im Spiel sind.
Doch könne man auch in solchen Fällen unterstützend handeln, indem man die Polizei ruft, sich als Zeuge zur Verfügung stellt oder durch lautes Rufen andere Personen auf die Situation aufmerksam macht. «Zivilcourage orientiert sich an humanen und demokratischen Werten. Das Handeln ist für andere sichtbar und bezieht sich auf das Wohl der Gemeinschaft», erklärt Andreoli.
Doch könne man auch in solchen Fällen unterstützend handeln, indem man die Polizei ruft, sich als Zeuge zur Verfügung stellt oder durch lautes Rufen andere Personen auf die Situation aufmerksam macht. Gerade weil Zivilcourage nicht delegiert werden könne und zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft mit gemeinsamen ethischen Wertenennern gehöre, sei es wichtig, dass sich sämtliche Akteure ihrer Verantwortung bewusst sind. Dazu gehören Gemeinden, Ausbildungsstätten und Betriebe genauso wie Privatpersonen.
Eine massive Beschleunigung
Insbesondere für die Generation Z ist der virtuelle Raum mit den sozialen Medien ein natürliches Habitat, in dem sie aufgewachsen sind. Entsprechend sind für sie Phänomene wie Cyber-Mobbing und dass Zivilcourage online gezeigt werden muss, Teil des Erwachsenwerdens.
Margarete Boos bestätigt, dass sich der Raum vermehrt ins Netz verlagert hat – allerdings «nicht in dem Sinne, dass im offline sozialen Raum weniger bedroht, diskriminiert oder Gewalt angewendet wird», wie sie betont. Und Giorgio Andreoli ergänzt, dass das Internet nicht nur eine zusätzliche Gefahr darstellt, sondern auch Chancen eröffnet. So biete es die Möglichkeit, Vorfälle leichter zu dokumentieren und festzuhalten.
Was jedoch gleichzeitig bedeutet, dass man durch sein Handeln nicht nur selbst zur Zielscheibe werden, sondern dabei auch gefilmt und anschliessend im Netz landen kann. Boos sagt: «In den sozialen Netzwerken ist Zivilcourage noch viel relevanter und zum Teil auch schwieriger, da dort alles viel schneller geht, auch schneller eskaliert als im Face-to-Face-Kontext.»
Für bestimmte Prototypen – WhatsApp-Gruppen in Klassen sowie YouTube-Videos – hat sie mit ihren KollegInnen in Kooperation mit dem Mauthausen-Komitee Wien ein Zivilcourage-Online-Training entwickelt. Dabei geht es um praktische Fragen, wo und wie man sich beschweren kann, die Gesetzeslage und Pflichten von Netzwerkbetreibern sowie darum, wie Melde- und Löschmöglichkeiten ausgeschöpft werden können.
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