Noé Roth ist erst 20-jährig, doch stehen im Februar in Peking für ihn bereits seine zweiten Olympischen Spiele an. Damit der Baarer gegen die starke Konkurrenz aus Osteuropa und China eine Chance auf Edelmetall hat, feilt er an einem ganz besonderen Sprung. Dabei immer an seiner Seite: Vater und Aerials-Nationaltrainer Michel Roth.
Kleine Quizfrage: Aus welcher Sportart stammt folgende Bezeichnung: Full-Full-Full? Einen dreifachen Salto mit drei Schrauben. Na, hättest du es ohne Bild gewusst? Denn Skiakrobatik, mittlerweile Aerials genannt, ist eine Sportart, die hierzulande meist unter dem medialen Radar fliegt.
Dabei hat die Schweiz und insbesondere der Kanton Zug gar Aerials-Geschichte geschrieben: So gewann die Zugerin Colette Roth-Brand 1992 den Showevent im Rahmen der Olympischen Spiele in Albertville, ehe sie 1998 in Nagano die Olympische Bronzemedaille holte. Unvergessen sind auch die Olympischen Goldsprünge des Zugers Andreas «Sonny» Schönbächler in Lillehammer 1994.
Bei manchem Wintersport-Crack dürfte es beim Namen Roth soeben geklingelt haben. Denn: Colette Roth-Brands Ehemann Michel ist nicht nur Nationaltrainer der Schweizer Aerials-Equipe, der gemeinsame Sohn Noé ist auch eines der aufregendsten Talente in der Welt der Skiakrobatik.
Das Palmarès der vergangenen Jahre unterstreicht den steilen Aufstieg des 20-Jährigen: Europacup-Sieger in der Saison 2016/17, Juniorenweltmeister 2018, WM-Bronze und Weltmeister im Team-Event 2019, erster Weltcupsieg am 8. März 2020 und Disziplinengesamtsieger in der Saison 2019/20, in der Vorsaison reichte es zu Platz 2.
Auch Olympiaerfahrung hat der Senkrechtstarter bereits: 2018 belegte er als 17-Jähriger in Pyeongchang Rang 16. Nun stehen also in Peking bereits seine zweiten Olympischen Titelkämpfe an. Am 15. Februar gilt es in der Qualifikation ein erstes Mal ernst, am Tag darauf steigt das Finale.
Die Erwartungen sind heuer ungleich höher, auch wenn die Konkurrenz aus China, Russland, Belarus und der Ukraine stark ist. Ein Medaillengewinn ist schwierig, doch keinesfalls unrealistisch.
Fünf Schrauben in wenigen Sekunden
Damit für den Baarer in Peking der Sprung nach ganz oben möglich wird, ist eine ideale Vorbereitung essenziell. Nach einem dreiwöchigen Schneetraining in Saas-Fee im Herbst folgte für den Nationalkader der nächste Schritt der Saisonvorbereitung im finnischen Ruka, wo ab dem 2. Dezember nicht nur die ersten Weltcupspringen auf dem Programm standen (Ergebnisse bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt), sondern davor weiter an den Sprüngen gefeilt wurde, nachdem es in Saas-Fee vor allem darum ging, den Rhythmus wiederzufinden.
Ein Sprung stand in den letzten Wochen und Monaten im Training besonders im Fokus: der Hurricane, ein Full-Triple-Full-Full. Der aktuell schwierigste Sprung überhaupt. Salto mit Schraube, Salto mit drei Schrauben, Salto mit Schraube.
«Dass man mit den drei Schrauben in der Mitte rechtzeitig fertig wird, macht die Hauptschwierigkeit des Hurricanes aus», sagt Noé Roth.
Ausserdem sei es bei diesem Sprung noch anspruchsvoller, die Spannung immer zu wahren und die Füsse zusammenzupressen. «Noé kommt entgegen, dass am Ende nur noch eine Schraube folgt, dies mag er», ergänzt Michel «Misch» Roth.
Der erste körperliche Rückschlag
Beim Erlernen eines neuen Sprungs werden die Rotationen erst auf einem Trampolin mit der Hilfe von Bungee-Seilen eingeübt, bevor die ersten Sprünge ins Wasser folgen. Erst danach kommt der Wechsel auf den Schnee.
Im Sommer wurde Noé Roths Lernprozess von einer entzündeten Patellasehne verlangsamt. Es ist das erste Mal, dass er von körperlichen Beschwerden gebremst wurde und das Trainingsprogramm reduzieren musste.
Vater und Trainer Michel Roth sieht dabei jedoch den positiven Aspekt: «Für einen jungen Sportler wie Noé ist es eine wichtige Erfahrung, die ihn weiterbringen wird. Als Sportler musst du lernen, mit Rückschlägen umgehen zu können.»
Auf die Frage nach der Verletzungsgefahr im Aerialssport angesprochen, antwortet Noé Roth gewohnt lässig: «Geringer, als die Leute vermutlich denken. Diejenigen, die solche Sprünge zeigen, verstehen ihr Handwerk.»
Michel Roth, übrigens bereits seit 1991 Schweizer Aerials-Nationaltrainer und einst selbst zweifacher Weltcupsieger, erklärt das verhältnismässig geringe Verletzungsrisiko unter anderem mit dem weichen Schnee im Landebereich.
Eine natürliche Eleganz
Spätestens beim Springen in Deer Valley (USA) am 12. Januar will der Zuger Sportler des Jahres 2019 und 2020 den Hurricane erstmals wettkampfmässig zeigen. Nicht nur, weil dies von der Saisonplanung passt, sondern weil ihm die Schanze in Utah auch besonders gut liegt.
Denn: Schanze ist nicht gleich Schanze, wie der 20-Jährige erklärt: «Vor allem in Bezug auf den In-Run, die kurze Fläche vor der Schanze, unterscheiden sich die Anlagen.
Ich bevorzuge es, wenn der In-Run wie in Deer Valley eher auf der längeren Seite ist.» Ausserdem spielen das Wetter und die Temperaturen eine entscheidende Rolle für das Sprungvergnügen, ergänzen Michel und Noé Roth unisono.
Was die Schanze selbst und den Aufsprung anbelangt, versuchen die Veranstalter die Differenzen so gering wie möglich zu halten. Auch der Schanzenradius ist festgelegt: Beim Absprung sind es genau 71 Grad.
Von da werden die Athletinnen und Athleten bis zu 15 Meter in die Höhe katapultiert. Drei bis vier Sekunden haben sie Zeit für die Rotationen, bevor sie zur Landung ansetzen müssen.
Noé Roth verrät, dass er manche Sprünge erst nach der Landung wirklich geniessen kann – wie den Hurricane. Der Full-Full-Full auf der anderen Seite ist sein Lieblingssprung, weil man bei diesem Sprung den Landebereich jederzeit sehen könne. «Sprünge wie diesen kann ich in der Luft wirklich geniessen», sagt er.
Geniessen kann nicht nur Noé seine Sprünge, sondern auch Papa Michel, der den rasanten Aufstieg seines Sohns natürlich hautnah mitverfolgt hat.
Als die grössten Stärken von Noé bezeichnet er dessen Fähigkeit, in den Wettkämpfen seine beste Leistung abrufen zu können sowie sein Lagegefühl, das er sich bereits früh im Kunstturnen und später im «Jumpin», der Wassersprunganlage in Mettmenstetten, erarbeitet hat.
Ausserdem komme ihm bei der Landung entgegen, dass er ein guter Skifahrer ist und er besitze in der Luft eine natürliche Eleganz.
Einen Sponsorencoup gelandet
Aktuell befindet sich das Team noch in Ruka, erst am 20. Dezember folgt die Rückkehr nach Hause. Nach den Weltcupspringen in Nordamerika im Januar soll es via Japan mit Training und Wettkämpfen direkt weiter nach Peking gehen.
Wenn es um die Olympia-Ambitionen geht, erwähnt Michel Roth immer wieder einen Begriff: Spielverderber. Wollen sie diesen spielen, muss die Schweizer Equipe ihr maximales Leistungsniveau abrufen.
Denn ist ihr bewusst: Rufen die Chinesen ihr Leistungspotenzial ab, sind sie im Teamwettbewerb kaum zu schlagen. Dort visiert jedoch auch die Schweiz Edelmetall an, denn neben Noé Roth springen auch Pirmin Werner und Nicolas Gygax auf einem sehr hohen Niveau.
Wie für so viele Randsportarten bieten die Olympischen Spiele auch für die Aerials das grösstmögliche Schaufenster. Für Michel Roth und sein Team gleich in mehrfacher Hinsicht wichtig: Einerseits würde er gerne mehr junge Menschen für die Sportart begeistern, gerade solche, die aus dem Kunstturnen kommen.
Ausserdem können durch das mediale Scheinwerferlicht unter Umständen Sponsoren angelockt werden. Noé selbst wird seit einem Jahr von Red Bull unterstützt.
Michel betont zusätzlich die Wichtigkeit der Unterstützung von Swiss Ski. «Ohne den Verband würde es unser Aerials-Team vielleicht gar nicht mehr geben», sagt er. Die beste Art, Danke zu sagen, sei, gute Resultate zu bringen. Nicht zuletzt an den Olympischen Spielen.
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