Rund 15’000 Menschen in der Schweiz leiden an Multipler Sklerose. Diese unheilbare und chronische Krankheit kann unterschiedliche Symptome aufweisen, weswegen sie nicht immer einfach zu diagnostizieren ist. Eine Betroffene erzählt von ihrem selbstbestimmten Leben mit Multipler Sklerose.
Jeden Tag erhält in der Schweiz eine Person die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Die meisten bekommen diese Nachricht im Alter von 20 bis 40 Jahren, weil sich die ersten Symptome in der Regel in diesem Lebensabschnitt zeigen. Da die Symptome sehr unterschiedlich ausfallen, ist es schwierig, diese unheilbare Krankheit rasch zu diagnostizieren. Zwar können die aktuell vorhandenen Therapieangebote den Verlauf von MS mildern, doch bleibt sie chronisch fortschreitend und kann nicht vollständig geheilt werden.
Bei Multipler Sklerose greift das Immunsystem fälschlicherweise das körpereigene Gewebe an. Dies betrifft das zentrale Nervensystem, wo das Immunsystem die Isolierschicht um die Nerven herum sowie die Nervenfasern und -zellen abbaut. Deswegen entzünden sich die Nerven und vernarben, was verschiedene Körperfunktionen stören kann. Zum Beispiel können Seh- und Gleichgewichtsstörungen auftreten sowie Lähmungen an Beinen, Armen und Händen. Auch Fatigue, Sensibilitätsstörungen und mangelnde Konzentration können durch MS hervorgerufen werden.
Die Ursache von Multipler Sklerose ist nicht endgültig geklärt, es wird aber diskutiert, dass sie sich aufgrund genetischer Veranlagung und durch den Einfluss von Umweltfaktoren entwickelt. Weiter ist festgestellt worden, dass Frauen doppelt so oft an MS leiden als Männer. Als Grund dafür wird der unterschiedliche Hormonhaushalt vermutet.
Keine MS gleicht der anderen
Obwohl Multiple Sklerose die neurologische Krankheit darstellt, die am häufigsten bei Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren diagnostiziert wird, wissen die wenigsten gut über sie Bescheid. MS ist grundsätzlich nicht sichtbar und da ihre Symptome wie erwähnt sehr unterschiedlich sein können, wird sie auch die «Krankheit der tausend Gesichter» genannt. Die Symptome variieren nicht nur von Person zu Person, sondern verändern sich auch je nach Dauer und Schweregrad der Erkrankung. Deswegen weisen betroffene Personen sehr unterschiedliche Tagesformen auf.
Eine Krankheit mit vielen Fragezeichen
Corinne Zahnd ist von MS betroffen und geht offen damit um. Ihre Diagnose hat sie vor knapp vier Jahren erhalten und klärt seither in ihr Umfeld über das Leben mit dieser Krankheit auf. Damit macht sie anderen Betroffenen Mut und sensibilisiert die Menschen für die Bedeutung und den Umgang mit dieser Krankheit. «Viele denken immer noch, dass MS für Muskelschwund steht», sagt die Bernerin, «das ist einer der Gründe, wieso die Aufklärung über MS meiner Meinung nach immer noch sehr wichtig ist». Denn je besser die Bevölkerung über diese Krankheit Bescheid weiss, desto weniger macht diese Diagnose den Betroffenen und ihren Angehörigen Angst und desto besser können ihre Mitmenschen sie unterstützen.
Da sie geeignete Medikamente für ihre Beschwerden gefunden hat, kann Corinne Zahnd ein selbstbestimmtes Leben führen. Zweimal im Jahr erhält sie ihre Infusionstherapie Ocrevus, welche ihr Immunsystem davor bewahrt, ihren Körper anzugreifen. Seit sie mit der Therapie begonnen hat, hat sie keine weiteren Schübe gehabt.
Eine überraschende Diagnose
Vor bald vier Jahren ist Corinne Zahnd an einem Sonntag mit Doppelbildern und Gleichgewichtsstörungen aufgewacht. Da sie auch noch fast eine Woche später doppelt sah, kontaktierte sie ihren Hausarzt, der sie schnell in die Notaufnahme überwies. Nach zahlreichen Untersuchungen wurde ihr die Diagnose Multiple Sklerose mitgeteilt. «Vieles ging mir dabei durch den Kopf», erinnert sie sich. «Ich fühlte mich hilflos und leer, war fassungslos.» Lange Gespräche mit ihrem Partner und den Neurologen konnten sie jedoch beruhigen. Sie war dankbar, dass sie weder einen Hirntumor noch ein Blutgerinnsel oder einen Schlaganfall erlitten hatte. Mit dem Rest würde sie schon klarkommen.
Die Diagnose kam sehr überraschend, doch nach längerem Überlegen kamen ihr und ihrem Partner viele Symptome in den Sinn, welche schon seit Jahren auf Multiple Sklerose hingedeutet hatten. So konnte die heute 42-jährige teilweise schlecht sehen, ab und zu kribbelte ihre linke Gesichtshälfte und Gleichgewichtsstörungen waren für sie nichts Besonderes. Da diese Symptome aber nach ein paar Minuten, Stunden oder manchmal Tagen schwanden, hatte sie ihnen keine Bedeutung geschenkt und war nicht zum Arzt gegangen.
Heute begleiten sie immer noch Sehstörungen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sind und durch Stress hervorgerufen werden können. «Wenn ich sehr gestresst bin, sehe ich entweder doppelt oder gar nichts mehr», erzählt sie. Einerseits findet sie dies nervig, andererseits schätzt sie, dass ihr Körper ihr schnell signalisiert, wenn sie über ihre Grenzen gegangen ist. Überdies hat sie ihre Feinmotorik verloren und hat manchmal grosse Mühe, in einer geraden Linie zu gehen. Ab und zu fallen ihr im Gespräch gebräuchliche Wörter nicht ein und es mangelt ihr manchmal an Konzentration. Hin und wieder leidet sie an sehr starker Erschöpfung, «diese Fatigue fühlt sich an, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren», erläutert sie. Trotz dieser Einschränkungen kann Corinne Zahnd immer noch ihrem Beruf nachgehen und arbeitet bei Coop. Ihre Stelle als Rayonleiterin musste sie aufgeben, da die Arbeit zu stressig war. Heute ist sie als Coopmitarbeiterin tätig und glücklich damit.
Was ein offener Umgang ausmacht
Corinne Zahnd hat sich bewusst für einen offenen Umgang mit ihrer Multiplen Sklerose entschieden, da diese Krankheit nun mal zu ihr gehöre. «Es ist mir sehr wichtig, dass meine Arbeitskolleginnen, Freunde und Familienmitglieder wissen, was mit mir los ist, wenn ich beim Laufen torkle, als sei ich betrunken, wenn ich wieder einmal fehle, weil ich für Untersuchungen ins Spital muss oder mich die Fatigue einholt.»
Da sie mit ihren Mitmenschen offen über ihre Krankheit spricht, verhindert sie Gerüchte und Halbwahrheiten über sich selbst. Auch erhält sie dadurch manchmal mehr Verständnis, wenn sie sich krankmeldet oder Pläne absagen muss. Mitleid will sie aber keines, weil das ihr nichts bringe. «Anfangs waren viele schockiert, als ich ihnen von meiner Diagnose erzählt habe», sagt sie, «aber mit der Zeit haben sie diese Tatsache akzeptiert und gemerkt, dass ich im Grunde immer noch dieselbe Person bin wie zuvor».
Doch nur weil Personen, die unter Multipler Sklerose leiden, nicht dauernd erklären, wie es ihnen gerade geht, bedeute das nicht, dass alles bestens ist, erklärt sie. «Ich bin mir absolut bewusst, dass es für Aussenstehende sehr schwierig ist, nachzuvollziehen, wie es Betroffenen geht.» Doch was ihre Mitmenschen sehen, sei das Äussere. «Was in der Person genau vorgeht, können Aussenstehende nicht wissen», deswegen erinnert sie daran, dass man über Betroffene nicht vorschnell urteilen sollte – «gleich wie über kerngesunde Menschen auch», sagt sie.