Ihre Biographie «Mein langer Weg» erschien vor mehr als zehn Jahren. Was hat sich seither verändert?
Da gibt es einiges: Ich habe beispielsweise das gelernt, was ich im Buch als «Anfang vom Ende» bezeichnete. Oder ich habe nur noch einen einzigen Arbeitsplatz. Der Besitzer des Gartenzwerges ist gestorben. Ich erzählte übrigens nach seinem Tod meinen Schwestern und Papa von ihm.
Wie denken Sie heute über Ihre Mutter?
Ich bin nach wie vor wütend auf sie. Einmal sagte meine älteste Schwester: «Verzeih doch Mama. Wir haben ihr auch verziehen.» Welche Katastrophe! Als ich sie fragte, was sie Mutter habe verzeihen müssen, musste sie lange überlegen, bevor ihr etwas einfiel. Also gehe ich davon aus, dass Mutter die andere ältere Schwester so demütigte wie mich – also war alles noch viel schlimmer. Nein, das ist natürlich Unsinn.
Und Ihr Vater?
Ich besuche ihn nicht. Das liegt aber auch an der grossen Distanz zwischen seinem Wohnort und meinem. Und eigentlich gehe ich nicht gern dorthin, weil er so abgelegen liegt. Als ich nach einem kleinen Velounfall kurz ins Spital musste, wollte ich nicht, dass Papa mich besuchte, weil er relativ weit vom Krankenhaus entfernt wohnt und der Besuch für ihn Aufwand bedeutete. Aber eigentlich freute ich mich, als er auftauchte. Ich telefoniere heute oft mit ihm, was aber einen bestimmten Grund hat: Ich mache es, nachdem ich erfuhr, dass die nach einem Sternzeichentier benannte Krankheit auch vor ihm nicht zurückschreckt und er dasselbe Schicksal wie meine Mutter erleiden kann. Das liegt aber schon einige Zeit zurück. Es geht ihm wieder gut.
Wie hat Ihr Umfeld auf die Veröffentlichung Ihrer Lebensgeschichte reagiert?
Meine Familie war nicht begeistert. Ich beschreibe halt Mutter, wie ich sie erlebte, und nicht als die liebe Frau, als die sie bekannt war. Mir hat sie selten gezeigt, wie lieb sie war. Sie besuchte mich täglich im Spital. Aber damit bewies sie mir nicht Mutterliebe, wie sie wohl dachte. Mutters Schwester weinte, ich sei gemein, so zu schimpfen «über eine Frau, die sich nicht mehr wehren kann». Mein Chef sagte, er habe «schöne Ferien gehabt mit deinem Buch». Er sagte es aber in einem Tonfall, dass ich merkte, dass er das Gegenteil meinte: Ich habe ihm die Ferien eher verdorben. Ich gebe halt auch Sachen über mich preis, die überhaupt nicht lustig sind. Papa hat das Buch nicht gelesen, er ist enttäuscht, dass ich es geschrieben habe.
Sie veröffentlichten auch noch «Das Schicksal heisst Alex». Wie hat Alex‘ Familie darauf reagiert?
Gar nicht! Alex ist erfunden. Den Jungen auf dem Buchcover kenne ich nicht. Er heisst sicher nicht Alex. Aber das Bild wurde vom Verlag gemacht und als Cover bearbeitet. Sonst wäre es ja illegal.
Schreiben Sie noch weitere Bücher?
Ein Buch pro Jahr! Das ist nicht mal gelogen. Doch ich hätte Mühe, einen Verlag zu finden, der meine Agenda druckt. Ich schreibe aber mehr die Gegenwart hinein, nämlich was ich arbeite. Und ich wiege mich regelmässig und notiere das Gewicht. Es gibt nichts Privateres. Ich will sie also auch gar nicht veröffentlichen.
Haben Sie mit dem Bücherverkauf Gewinn gemacht?
Nein, doch das war nicht schlimm. Ich habe genug Geld, ich bekomme ja eine IV-Rente und habe noch andere Einnahmequellen. Meine Biographie schrieb ich nicht wegen des Geldes; sie war auch eine Art Verarbeitungstherapie. Ich musste lachen und weinen. Lachen musste ich aber häufiger, das war mein Gewinn. Und einige Erkenntnisse waren Gold wert.
Was war das schönste Erlebnis im Bücherverkauf?
Die Wiener Buchmesse. Dort durfte ich VIP-Autorin sein. Ich durfte also beim Stand vom Novumverlag, der meine Bücher druckte, stehen und mich mit Messebesuchern unterhalten. Ich verteilte auch Autogramme. Das bereitete mir Freude.
Und welches das traurigste?
Ich verkaufte die Bücher oft an Warenmärkten. Ich besuchte viele verschiedene Märkte. Viele Markthändler kannten mich. Einmal sagte jemand zu mir, als ich kaum dort war: «Du mietest einen ganzen Stand. Wegen diesen paar Büchern. Nein, da hätte ich schon lange einen eigenen Stand gekauft.» Meine gute Laune, die ich verspürt hatte, weil ich nach der Ankunft meinen Standplatz gleich gefunden hatte, verschwand augenblicklich.
Warum ist es für Sie wichtig, immer genug Bücher zu Hause zu haben?
Ich weiss nie, wann ich ein Buch verkaufen kann. Manchmal – zwar sehr selten – kommt eine Bestellung per E-Mail und wenn ich dann sagen müsste, ich hätte keine Bücher und müsse sie erst noch bestellen, wäre das schlecht und der Interessent würde sich das Buch wohl auf andere Weise beschaffen – oder ganz darauf verzichten.
Wie reagiert Ihre Schwester auf Ihre Buchbestellungen?
Sie war nicht begeistert und wollte nicht einsehen, dass diese Bestellungen nötig waren.
Gab es jemals eine Situation, in der Ihre Schwester Ihnen das Bestellen von Büchern verboten hat?
Ja.
Können Sie das beschreiben?
Die Bücher bekam ich vom Verlag nicht gratis geliefert, obwohl ich Rabatt erhielt. Dazu kamen noch Versandspesen und Spesen beim Überweisen am Bankschalter. Ich musste also viel bezahlen.
Wofür benötigten Sie die Bücher dringend, die Sie bestellt hatten?
Ich war an einen Markt angemeldet.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das Paket mit den bestellten Büchern endlich erhalten haben?
Ich war sehr erleichtert. Die Zeit reichte gut, um den Zug zu erreichen, der mich zum Bahnhof brachte, wo ich auf das Postauto umsteigen konnte, das mich zum Markt brachte, aber nicht mehr, um nach Hause zu gehen und einige Bücher auszupacken. Ich musste mit 20 Büchern auf den Zug.
Können Sie beschreiben, wie es war, den schweren Koffer mit den Büchern beim Ein- und Aussteigen aus dem Zug zu tragen?
Schon das Einsteigen war sehr schwer. Es hätte wohl auch einem Nichtbehinderten Mühe bereitet. Und das Aussteigen war noch viel schwieriger. Ich verlor das Gleichgewicht.
Was ist in dem Moment passiert, in dem Sie fast auf die Gleise gestürzt sind?
Leute, die neben mir standen, zögerten keine Sekunde und packten zu. Sie hielten mich fest. Ich wusste, dass ich keinen Schritt vorwärts machen durfte, weil der Zug gerade losfuhr. Ich überlegte, ob ich den Koffer loslassen soll, um die Gefahr zu mindern.
Wie hat Ihre Schwester auf die Erzählung von Ihrem Beinaheunfall reagiert?
Sie wollte nicht zugeben, dass sie daran schuld ist und behauptete, der Zugerfinder sei schuld.
Was glauben Sie, wäre passiert, wenn Sie tatsächlich auf die Gleise gestürzt wären?
Das hätte tödlich enden können. Wenn jemand aufrecht unter den rasenden Zug gerät (eine todsichere Suizidmethode), kann man ihn in hunderten Stücken einsammeln. Dies wäre nicht passiert. Vielleicht hätte ich «nur» einen Arm verloren. Besser, ich weiss es nicht.
Was haben Sie gelernt aus dieser Erfahrung mit Ihrer Schwester und Ihrer Buchbestellung?
Ich bestelle Bücher, bevor ich keine mehr habe. Es ist mir egal, was die Schwester dazu sagt. Wenn ich die Bücher bei mir zu Hause im Schrank aufbewahre, gehen sie ja nicht kaputt. Und ich bestelle neue Bücher, bevor ich alle verkauft habe, damit ich immer einen Büchervorrat besitze.
Wie hast du dich entschieden, im Heim zu leben und wie hat sich Ihre Einstellung dazu im Laufe der Zeit verändert?
Ich ging nicht freiwillig in ein Ausbildungsheim, doch nachdem ich einige Wochen später noch einmal im Ausbildungszentrum Brunau gewesen war, merkte ich, dass es im Rossfeld viel besser war. Ich schätzte die Betreuung und die Umgebung. Das Rossfeld befand sich nicht in der Stadt.
Was hat Sie dazu bewogen, aus dem Wohnheim ausziehen zu wollen und wie ist der Antrag dazu verlaufen?
Ich merkte, dass ich unselbständig wurde. Ich benötigte ja praktisch keine Betreuung. Die Kosten spielten für mich keine Rolle. Doch mein Antrag, als externe Mitarbeiterin im Bürozentrum zu arbeiten, wurde abgelehnt.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie erfahren haben, dass Sie ausziehen dürfen?
Ich war überrascht. Ich hatte mich damit abgefunden, im Wohnheim zu wohnen. Die Arbeit war für mich wichtiger.
Wie haben Sie Ihre Nachbarn kennengelernt und wie haben sie Ihnen geholfen, sich in Ihrer neuen Wohnung einzuleben?
Ich habe spontan bei ihnen geläutet und bat sie um Hilfe. Ich brauchte wirklich jemanden, der mir half, weil meine Wohnung überhaupt nicht eingerichtet war und Kisten herumstanden. Die Nachbarn halfen mir sofort. Beispielsweise hängten sie meine Bilder auf. Das gibt ja einem Zimmer sofort eine freundlichere Atmosphäre.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie angefangen haben, Ihr Buch auf Märkten zu verkaufen und wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Eigentlich freute ich mich auf den ersten Markt. Ich fand schnell heraus, dass ich nicht nur Bücher mitnehmen musste. Ich schrieb mir eine Liste, was ich brauche. Dies machte ich allerdings nicht vor dem ersten Marktbesuch.
Wie hat Ihre Schwester und Vermieterin auf Ihre Anfrage um den Koffer reagiert und was war die Folge davon?
Sie gab ihn mir kommentarlos und fragte mich erst später, wann ich in die Ferien gehe. Ich war verwirrt und sagte, ich ginge nicht in die Ferien. Der Koffer könne doch auch bei mir sein. Sie sagte, ich solle nichts im Geheimen machen. Was sie damit meinte, finden Sie auf www.meinlangerweg.ch heraus.