Im Zielraum wird der Ski aus der Bindung gelöst, um anschliessend in die Luft geschleudert und abgefangen zu werden, dazu der orange Ovomaltine-Helm und ein verbissenes Gesicht vor dem Abstossen aus dem Starthaus. Didier Cuche avancierte nicht nur aufgrund seiner Erfolge schweizweit zum Publikumsliebling, sondern gab er sich auch immer volksnah und authentisch.
In wenigen Tagen übersiedelt der Ski-Tross nach Kitzbühel, wo Didier Cuche mit fünf Abfahrtstriumphen Rekordsieger auf der Streif ist. Davor hat sich der Neuenburger Zeit für uns genommen, spricht im Interview unter anderem über den Formstand der Schweizer Ski-Asse, wie ehrgeizig er immer noch ist und ob er sich wünscht, dass seine Kinder dereinst in seine Fussstapfen treten.
Gerade von der älteren Generation hört man regelmässig, es sei nicht mehr wie früher, als man als Kind am Mittag nach Hause rannte, um Bernhard Russi und Co. vor dem Fernseher anzufeuern. Ist gar nicht die Leidenschaft weniger geworden, sondern haben sich vielmehr der Zeitgeist und das Sehverhalten verändert?
Die Begeisterung ist auf jeden Fall immer noch spürbar, gerade auch weil die Schweiz ein Land der Skifahrer bleibt. Auch meine Kinder schiessen bereits begeistert den Hang hinunter. Was das Sehverhalten anbelangt: Der Wintersportkalender ist heute viel dichter gefüllt, mittlerweile könnte man jedes Wochenende mehrere Stunden Wintersport im TV verfolgen. Pflegt man daneben ein aktives Leben, beispielsweise mit einer Familie, kann man gar nicht alles schauen.
Beim Kampf um Aufmerksamkeit schadet es bestimmt nicht, neben Marco Odermatt weitere Gallionsfiguren zu haben, die stets ganz vorne mitmischen wie Wendy Holdener, Lara Gut-Behrami, Corinne Suter und (noch) Beat Feuz.
Dies bildet gewissermassen das i-Tüpfelchen für den Sport. Gerade auch, weil unsere AthletInnen nicht nur auf der Piste hervorragende Leistungen bringen, sondern auch durch ihre Persönlichkeit und Reife zu überzeugen wissen.
Sie haben es angedeutet, der Saisonstart ist für die meisten Schweizer FahrerInnen nach Wunsch verlaufen, wir dürfen fast jedes Wochenende Podestplätze bejubeln. Wie fällt Ihr erstes Zwischenfazit aus?
Sehr positiv. Vor allem geben die guten Resultate auch viel Vertrauen im Hinblick auf die WM in Courchevel und Méribel im Februar. Denn so reist du mit der Gewissheit an, mit deinem normalen Leistungsniveau vorne mitmischen zu können. Ansonsten läufst du Gefahr, mit dem Gefühl, eine zusätzliche Schippe drauflegen zu müssen, den Bogen zu überspannen.
Wie eng verfolgen Sie den Weltcup immer noch?
Wenn möglich, gucke ich mir die Rennen an. Bin ich gerade unterwegs, verfolge ich die Resultate und Zwischenzeiten auf der FIS-App oder schaue den Live-Stream.
Was halten Sie von den neueren Formaten im Skizirkus wie Parallelrennen oder City-Events?
Meiner Meinung nach müssten die City-Events eine Werbeplattform für die FIS sein und nicht mit dem Weltcup-Kalender konkurrieren – wobei das bei diesem dichten Kalender nicht einfach ist. Ausserdem sollte es das Ziel sein, in den Grossstädten mit den Top-Athleten als Werbeträger auch ein urbanes Publikum anzusprechen, anstatt jene aus den ländlichen Regionen in die Stadt zu locken versuchen. Ich persönlich konnte mich nie gross mit diesen Formaten identifizieren, wobei sie durchaus auch positive Seiten haben. So können sich gerade aus den technischen Disziplinen Athletinnen ins Rampenlicht fahren, die im Weltcup aufgrund des extrem hohen Leistungsniveaus mit einer Startnummer jenseits der 30 starten müssen.
Dass es die FIS mit neuen Formaten versucht, ist kein neues Phänomen. Bereits vor 20 Jahren hat sie einen Ausscheidungsslalom mit Head-to-Head-Format und knapp 40 Fahrsekunden im Weltcup getestet. Sprechen die klassischen Disziplinen nicht für sich?
Es ist in der Tat so, dass die vier Disziplinen Slalom, Riesenslalom, Super-G und Abfahrt seit vielen Jahren sehr gut funktionieren und beim Publikum mehr als akzeptiert sind. Da müssen neue Formate gut durchdacht sein, damit sie sich etablieren können und sowohl bei den Fahrern als auch bei den Fans Anklang finden.
Am 20. und 21. Januar steht mit der Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel das berühmteste Skirennen der Welt auf dem Programm. Mit fünf Siegen sind Sie nach wie vor Rekordsieger. Streichen Sie dieses Wochenende immer noch rot im Kalender an?
Absolut, wobei ich seit meinem Rücktritt jedes Jahr mit meinen Partnern in Kitzbühel im Einsatz bin. Entsprechend verfolge ich die Rennen direkt vor Ort und nicht vor dem Fernseher.
Haben Sie das Gefühl, im Rückblick auf Ihre Karriere manchmal zu stark auf Kitzbühel beschränkt zu werden?
Natürlich tauchen dieser Ort und die Erfolge in meinem Leben immer wieder auf, was allerdings absolut ok ist – vor allem solange ich Rekordsieger bin. Dass ich darauf reduziert werde, glaube ich nicht. Zumal ich gerade im letzten Drittel meiner Karriere ein regelmässiger Podestfahrer war, ich konnte insgesamt sechs Kristallkugeln für mich entscheiden, das vergessen die Leute nicht sogleich, denke ich.
Sie waren eher ein Spätstarter im Weltcup. Wäre ein Karriereverlauf wie Ihrer heute überhaupt noch denkbar, wo die Förderung der Talente in der Regel schon extrem früh beginnt?
Ich würde mich nicht als Spätstarter bezeichnen, immerhin gewann ich mit 23 Jahren mein erstes Weltcuprennen. Auf der einen Seite braucht es heute für die Jungen mehr, um den Durchbruch zu schaffen, eine gewisse Frühreife wird vorausgesetzt und dass sie viel Disziplin und Verantwortungsbewusstsein mitbringen. Plus müssen die schulischen Noten stimmen. Dafür erfahren sie eine hervorragende Betreuung. Auf der anderen Seite ist es nicht so, dass es mir als junger Athlet an etwas gemangelt hätte. Die Verhältnisse in meiner Heimatregion eigneten sich gut zum Trainieren und dies gilt auch heute noch. Bei Schneemangel müssen wir Richtung Waadtland oder Wallis ausweichen.
Mit wir meinen Sie Giron Jurassien, wo Sie seit 2022 als Präsident amten?
Genau. Dabei geht es darum, den Nachwuchs aus der Region bestmöglich zu unterstützen und ihn hoffentlich ins nationale Kader zu bringen. 2009 als Pilotprojekt gestartet, sitze ich seither im Vorstand.
Daneben arbeiten Sie als Markenbotschafter, unter anderem für Head. Wie aktiv sind Sie dabei an der Suche und Förderung von neuen Talenten beteiligt?
Head Schweiz hat ein System entwickelt, um junge Talente zu fördern und die Markentreue zu festigen. Das Programm funktioniert sehr gut. Dies zeigt sich nur schon dadurch, dass dieses Konzept mittlerweile auch in anderen Ländern angewandt wird.
Wenn man es als Sportler bis ganz an die Weltspitze schaffen will, braucht es extremen Ehrgeiz; etwas, was Sie zweifellos mitbrachten. Gehen Sie weiterhin ehrgeizig durchs Leben?
Es ist nicht dasselbe. Nach der Karriere sieht man gewisse Dinge automatisch anders und hat auch einen breiteren Blickwinkel. Während der Aktivzeit ist der Wille und Ehrgeiz tatsächlich extrem wichtig und Teil einer professionellen Einstellung. So hilft er nicht nur, im Erfolgsfall das mentale Gleichgewicht zu wahren und nicht abzuheben, sondern auch bei Verletzungen, die gerade im Skisport Talente immer wieder daran hindern, ihr volles Potenzial abzurufen.
Sie wissen, wovon Sie sprechen.
Richtig, im Alter zwischen 16 und 22 Jahren erlitt ich drei gravierende Verletzungen, nicht nur das Knie war betroffen, sondern erlitt ich auch einen Oberschenkel- und einen Schienbeinbruch. Ich konnte mich zwar jeweils erholen, doch war es nicht einfach, in den vielleicht wichtigsten Jahren der Karriere immer wieder zurückgeworfen zu werden. Selbiges erlebe ich nun bei meinem 22-jährigen Neffen, der sich zwei Mal innerhalb von drei Jahren das Kreuzband riss. Trotz seines 130. Platz in den Disziplinen Abfahrt und Super-G ist er immer noch nicht in die Kader aufgenommen worden.
Ihr Fleiss wurde insofern belohnt, als dass Ihr Name immer noch mehrfach in den Rekordbüchern des Skiweltcups steht, so als ältester Sieger eines Weltcuprennens in Abfahrt, Super-G und Riesenslalom. Wie viel bedeutet Ihnen dies?
Rekorde sind da, um gebrochen zu werden. Aktuell macht es Johan Clarey äusserst spannend, ob er sich zum ältesten Abfahrtssieger küren kann. Was die Altersrekorde anbelangt: Sie zeigen, wie man seine Karriere durch Konsequenz und Disziplin in die Länge ziehen kann, wobei auch der Spass nicht vergessen werden darf. Dann spricht nichts gegen Erfolge im höheren Skifahreralter. Ich hoffe, dass ich so den Fahrern jenseits der 30 Mut geben kann. Der Rücktritt ergab sich bei mir dann, wobei jeder selbst spüren muss, wann der richtige Moment dafür gekommen ist.
Verspürten Sie dabei auch Dankbarkeit, dass Sie den Zeitpunkt selbst wählen konnten, bis zu den letzten Rennen konkurrenzfähig waren und nicht von körperlichen Problemen eingeschränkt waren?
Auf jeden Fall. Es ist immer schön, wenn man bis zum Schluss um die vorderen Plätze kämpfen kann und die Lust nicht unter Schmerzen leiden muss. Doch irgendwann stellt man sich gewisse Fragen: Ich wusste, dass im Moment noch alles gutgeht, doch kann es irgendwann kippen. Je länger man das Glück herausfordert, desto eher könnte die Serie reissen und man erlebt einen schweren Sturz. Obwohl dies im Hinterkopf mitfährt, macht dies einen nicht zwingend langsamer, sondern konnte ich das während der Rennen ausblenden.
Hatten Sie zum Zeitpunkt des Karriereendes bereits eine genaue Vorstellung davon, wie Sie Ihr künftiges Leben gestalten möchten?
Ja. Ich setzte mich mit meinem Bruder und meinem weiteren Manager zusammen und wir knüpften einige Kontakte mit potenziellen Partnern. Die durchaus positiven Rückmeldungen gaben mir eine gewisse Sicherheit, auch wenn meine Zukunft noch nicht exakt in Stein gemeisselt war.
Haben Sie nach Ihrer Karriere einen Adrenalinersatz gesucht?
Zu Beginn schon, ich fuhr unter anderem Autorennen. Dies mit grosser Freude, mir gefielen auch die Parallelen zum Skisport. So zum Beispiel die Bedeutung der richtigen Linienwahl. Gerade wenn man von den Speeddisziplinen kommt, ist dies ein gutes Training für den Motorsport mit dem Gefühl für die Geschwindigkeit. Gleichzeitig wusste ich, dass dies nur zum Spass ist und ich keine zweite Karriere im Motorsport einschlagen werde.
Sollte Noé oder Amélie einmal in Ihre Fussstapfen treten wollen, wären Sie offen dafür oder müsste das nicht sein? Gerade hinsichtlich der hohen Verletzungsgefahr.
Es muss nicht zwingend sein. Der Punkt ist, dass ich mit grossem Willen und harter Arbeit den Sprung in den Weltcup schaffte. Mit anderen Worten, es braucht sehr viel, um den Durchbruch zu schaffen. Ich werde sie auf jeden Fall unterstützen, wenn sie diesen Weg einschlagen möchten, doch pushen muss ich sie nicht und ich mache ihnen auch absolut keinen Druck – sie sollen selbst herausspüren, ob es für sie auch in diese Richtung gehen soll. Aktuell haben sie Spass im und mit dem Schnee, das freut mich bereits.
Eine gewisse Erwartungshaltung wäre auf jeden Fall gegeben mit dem Nachnamen Cuche.
Es ist tatsächlich so, dass Noé auf der Skipiste manchmal spasseshalber bereits als nächster Champion bezeichnet wird. Das ist auf der einen Seite zwar süss, auf der anderen aber auch etwas frustrierend und für ihn nicht so einfach.
Die Hektik des Weltcupzirkus bildete einen nahezu maximalen Kontrast zu Ihrem Leben fast schon in Abgeschiedenheit im Neuenburger Jura. Ist dies bewusst so gewählt oder eher den Umständen geschuldet, da Sie hier aufgewachsen sind?
Ich mag es hier, abseits vom Dorf- und Stadtleben, und fühle mich mit meiner Heimatregion stark verbunden. Gleichzeitig tauche ich immer noch regelmässig in diese Hektik ein, da ich wegen meiner Partner dem Weltcup nach wie vor Besuche abstatte. Im Nachhinein war es echt eine coole Sache, sich in dieser Welt zu bewegen, die Bühne zwei Minuten lang nur für sich zu haben. Dies hast du nachher nie mehr und ich blicke mit gesunder Wehmut darauf zurück. Aber klar: Bewegt man sich über lange Zeit in dieser Welt, kann dies auch zu einer Belastung werden.
Legte sich die Intensität nach dem Rücktritt gleich von 100 auf 0?
Nein, tatsächlich erhielt ich direkt danach viele Anfragen und konnte froh sein um mein gutes Umfeld, das nicht bei allem zusagte. Es ist nicht einfach, da das Gleichgewicht zu finden und herauszuspüren, wo eine Absage besser ist. Generell ist vieles anders. Als Athlet hast du ein grosses Team um dich, das dich zum Erfolg führen soll. Danach schrumpft dieses natürlich signifikant. Heute arbeite ich mit zwei Beratern zusammen, einer davon ist mein Bruder.
Wie oft werden Sie noch auf der Strasse oder auf der Skipiste angesprochen?
Das kommt darauf an, wo ich unterwegs bin. Oftmals höre ich leise meinen Namen, wenn ich irgendwo vorbeilaufe (lacht). Auf jeden Fall ist es deutlich ruhiger als zu meiner Aktivzeit.
Werden Sie dann eher auf Ihre Karriere angesprochen oder auf die aktuellen Fahrer und Resultate?
Immer wieder teilen die Leute ihre besonderen Erinnerungen von bestimmten Rennen mit mir als Protagonisten. Im Gespräch realisiere ich jeweils, wie die Leute mit mir mitlitten. Aktuell blicke ich im Rahmen meiner Referate verstärkt auf meine Karriere zurück, lasse gute wie schlechte Momente Revue passieren. Dieser Blick zurück und das Eintauchen in Erinnerungen gefällt mir.
Zur Person Didier Cuche wuchs als jüngstes von drei Kindern im Weiler Les Bugnenets im Neuenburger Jura auf. Im Skigebiet Bugnenets-Savagnières erlernte er das Skifahren, wo ein Skilift direkt neben dem Restaurant stand, das seine Eltern führten. Der 48-Jährige machte eine Metzgerlehre und gab am 29. Dezember 1993 sein Debut im Ski-Weltcup. Nach ersten Punkten wurde die Saison 1996/97 jäh unterbrochen, als er sich im Trainingslager in Australien das Schien- und Wadenbein brach. Auch 2005 verletzte er sich schwer, als er sich beim Training in Adelboden das Kreuzband riss. 1998 gewann er in Kitzbühel sein erstes Weltcuprennen. Bei der Abfahrt auf der Streif triumphierte er insgesamt fünfmal – Rekord. Ausserdem ist der Neuenburger ältester Abfahrts- Super-G- und Riesenslalom-Sieger im Weltcup. Insgesamt gewann er 21 Weltcuprennen und entschied vier Mal den Abfahrtsweltcup für sich. Auch im Super-G und im Riesenslalom gewann er jeweils eine kleine Kristallkugel. In seinem Palmarès stehen ausserdem eine olympische Silbermedaille im Super-G (1998) sowie ein kompletter WM-Medaillensatz: Gold im Super-G 2009, Silber in der Abfahrt 2009 und 2011 sowie Bronze im Riesenslalom 2007. Seine Karriere beendete er beim Saisonfinale in Schladming am 17. März 2012. Der Publikumsliebling wurde 2009 und 2011 zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt, 2011 ausserdem zum Schweizer des Jahres gekürt. Heute arbeitet er für verschiedene Marken als Botschafter, kümmert sich als Präsident von Giron jurassien und als Sportbotschafter für PassionSchneesport um den Nachwuchs und er organisiert ein eigenes Charity-Golfturnier. Didier Cuche lebt mit seiner Frau Manuela und seinen beiden Kindern Noé (7) und Amélie (4) im Neuenburger Jura, wo er aufgewachsen ist.