Interview mit Bettina Oberli

«Ein autoritärer Stil erstickt die Kreativität»

Regisseurin Bettina Oberli mag es, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. So arbeitet sie aktuell an einer Miniserie, einem Kinofilm sowie ihrem ersten langen Dokumentarfilm. Davor führte die Bernerin gemeinsam mit Cosima Frei Regie für die finale Staffel von «Neumatt», für die ursprünglich ein anderes Ende gedacht war, wie sie im Interview verrät.

Bettina Oberli, vor Kurzem lief auf SRF die dritte und letzte Staffel der Erfolgsserie «Neumatt», bei der Sie gemeinsam mit Cosima Frei Regie geführt haben. Wie viel Kompromissbereitschaft ist bei einer Co-Regie gefragt, wenn zwei kreative Köpfe zusammenarbeiten?

Im Idealfall werden nicht Kompromisse nötig, sondern ergänzen sich die zwei kreativen Köpfe. Das Ziel einer kreativen Kollaboration ist, dass das Endprodukt davon profitiert. Ich habe dies nun zum ersten Mal so gemacht und es als tolle Erfahrung erlebt: Wir haben gut harmoniert, gerade auch weil wir von einem ähnlichen Interessenfeld her kommen und ähnlich arbeiten. Wir versuchen, psychologisch genau zu erzählen und sind an den Figuren interessiert. Für mich bedeutete es auch eine grosse Entlastung, denn als Regie steht man oftmals ziemlich exponiert da und trägt die gesamte inszenatorische Verantwortung. Dies kann unter Umständen sehr viel sein. 

Brauchte es zwischen Ihnen und Cosima Frei entsprechend gar keine grosse Anpassungszeit, denn es bringt ja doch jeder seine eigene Arbeitsweise mit?

Die Co-Regie war ein Vorschlag der Produktion. Wir lernten uns früh genug kennen, um uns bereits zu finden. Denn persönlich kannten wir uns vorher nicht, doch hatten wir sogleich einen guten Draht zueinander. Eine Anpassungszeit war nicht nötig, da wir realisierten, dass wir eine sich deckende Vision hatten. Wir wollten «Neumatt» sehr nah an den Figuren erzählen. Plus war eine der zentralen Fragen, wie wir das Ende gestalten möchten und durch welche Höhen und Tiefen die Figuren nochmals gehen müssen, um dorthin zu gelangen. 

Das Drehbuch war als eine Art Ankerpunkt vorgegeben. Wie viel Freiheiten genossen Sie als Regisseurinnen?

Die Spielweise, Bilder, Legung des Fokus, Inszenierung im Raum oder der Umgang mit dem Rhythmus sind Entscheidungen, die von der Regie her kommen. Dadurch bekommt die Serie unsere spezifische Handschrift. Auf der anderen Seite sind bestimmte Aspekte natürlich vorgegeben. Da es sich um Figuren handelt, die schon eine Vorgeschichte über zwei Staffeln mitbringen, galt es, gewisse Dynamiken und Beziehungen, die vom Autorenteam über längere Zeit entwickelt worden sind, zu übernehmen. Wir als Regisseurinnen kamen also zu einem bestehenden Produkt hinzu. Ich empfand es als angenehme Arbeitsteilung, dass wenn wir das Gefühl hatten, etwas funktioniere nicht, wir dies auslagern konnten. Sprich, wir konnten unsere Fragen quasi an die AutorInnen zurückgeben, mussten also nicht über Nacht Szenen umschreiben. Durch das bereits bestehende Drehbuch konnten wir uns voll auf die Regie konzentrieren, wobei wir im Vorfeld auch viel mit Showrunnerin Marianne Wendt zusammenarbeiteten. 

Gruppenfoto der Crew der dritten Staffel der Serie Neumatt posiert vor einem Baum

Bettina Oberli (Dritte von rechts) führte gemeinsam mit Cosima Frei (links neben ihr) Regie für die finale «Neumatt»-Staffel. Bild: SRF/Sava Hlavacek

Wie abhängig ist es vom Drehbuchautor oder Autorinnenteam, wie viel Freiheiten man als Regisseurin geniesst?

Das ist schon unterschiedlich, aber bei Drehbüchern, bei denen alles passt, verspüre ich gar nicht das Bedürfnis, darin herumzuwühlen und Änderungen vornehmen zu wollen. Drehbücher entstehen teilweise über Jahre hinweg; entsprechend ausgereift und stimmig sind sie meistens. Ein Drehbuch zu schreiben, ist mit einem grossen zeitlichen Aufwand verbunden, weswegen in der Regel sehr sorgfältig geschrieben wird. Das Drehbuch dient als Dreh- und Angelpunkt, auf den sich alle verlassen können müssen. 

Wie offen sind Sie als Regisseurin für Inputs von den Schauspielern?

Ich glaube aus den eben genannten Gründen sehr ans Geschriebene und sehr oft, wenn man mit Schauspielerinnen über Szenen zu diskutieren beginnt, kommt man am Ende zum Schluss, dass es eben doch passend ist, wie es im Drehbuch geschrieben steht. Wenn eine Schauspielerin mit einem Satz Mühe bekundet, weil zum Beispiel die Aussprache unnatürlich ist, passt man dies an, oder man lässt auch mal einen Satz weg. Es kommt auch vor, dass Drehbücher geschrieben werden, bevor klar ist, wo genau die Handlung spielen wird, was ebenso zu Anpassungen führen kann. 

Ich nehme an, auch bei den Schauspielern gibt es grosse Unterschiede.

Absolut, es gibt jene, die jedes Wort drehbuchgetreu wiedergeben. Andere versuchen in fast jeder Szene, bestimmte Dinge zu ändern. Gewisse Schauspieler haben auch schon über Nacht Szenen und Dialoge ihrer Kolleginnen umgeschrieben, was dann zu viel sein kann. Aber es ist toll, wenn sie sich sehr für ihre Figur einsetzen. 

Ein gutes Ende zu finden, ist schon bei Filmen und Miniserien, wo Sie in der Vergangenheit zuhause gewesen sind, eine der zentralen Herausforderungen. Ist es bei einer mehrstaffligen Serie, bei der man nur bei der letzten Staffel Regie führt, nochmals anspruchsvoller?

Man möchte schon mit der Gewissheit abschliessen, dass man das richtige Ende gefunden hat. Film- und Serienenden sind für das ganze Produkt von zentraler Bedeutung und man muss sich ständig die Frage stellen, mit was für einem Gefühl man die Zuschauerinnen entlassen möchte. Bei «Neumatt» war klar, dass es den Hof nicht mehr geben wird. Aber wie man an diesen Punkt kommt und wie die einzelnen Charaktere mit ihren Themen umgehen, war mit einem Findungsprozess verbunden – teilweise sogar noch während des Drehs. Das fixe Ende der Neumatt half uns hierbei sehr. So war logisch, dass es ums Loslassen und Festhalten, um Gewinn und Verlust gehen wird. Wie lässt man los und wie bringen wir die Figuren schliesslich dazu, dass sie dies schaffen? Und wie schaffen sie es, ohne Neumatt eine Familie zu bleiben? Dies führt zu grundsätzlicheren Fragen wie was Familie ist und welche Formen von Familie es gibt. 

Szene aus der dritten Staffel von Neumatt mit Lorenz und Sarah Wyss auf dem Hof

Stehen in der dritten Staffel von «Neumatt» mit dem Rücken zur Wand: Lorenz (Jérôme Humm) und Sarah Wyss (Sophie Hutter). Bild: SRF/Sava Hlavacek

Was heisst dies nun für die Gestaltung des Endes von «Neumatt»?

Der Hof ist zwar weg und die Familie fürchtet sich vor einer Veränderung, aber sie ist an einem Punkt, an dem sie weiss, dass Veränderung nicht bedeutet, dass es sie nicht mehr geben wird, bloss halt anders. Es war mir wichtig, dass die Zuschauer nach dem Serienende mitnehmen können, dass Veränderung nichts Schlechtes sein muss und man auch in einem unkonventionellen Sinne eine Familie sein kann. Und dass der Familiengedanke nicht an einen Ort gebunden ist, sondern an die inneren Beziehungen. 

War das Ende immer so geplant, wie es nun im Endprodukt zu sehen ist?

Nein, ursprünglich war ein fulminanter Schluss angedacht mit Schneefall und im grossen Stile inszeniert. Wir realisierten jedoch, dass dies bezüglich produktioneller Bedingungen nicht zu schaffen ist und es gab auch bei den Jahreszeiten Probleme: Das Ende mussten wir bereits im September drehen – an Schnee war da natürlich nicht zu denken. Eine digitale Lösung war aus Kostengründen nicht möglich. Ich sagte dann relativ rasch, dass wir nun eben umdenken müssen. Statt gross, soll es vielleicht genau das Gegenteil sein, wofür wir in den Mikrokosmos eintauchen müssen. Sprich, wir machen es in einer Einstellung, die Familie schliesst ab, geht weg und wir sehen noch einmal den verschlossenen Hof, bevor die Kamera sich entfernt und sich im kleinen Fenster die Familie spiegelt. Eine absolut simple Lösung, die alles in einer Szene beinhaltet, was es zu erzählen gibt. Produktionell war es so deutlich einfacher. Die ursprüngliche Idee hätte für den Dreh wohl mehrere Tage in Anspruch genommen. 

Was für eine Atmosphäre bevorzugen Sie auf dem Filmset? Wenn es harmonisch zu und her geht oder darf es auch Meinungsverschiedenheiten geben und etwas lauter werden?

Ich bin eher auf der ruhigen Seite anzusiedeln und halte mich gerne etwas auf der Seite neben der Kamera in der Nähe der Schauspielerinnen auf. Es gibt Regisseure, die haben einen grossen Monitor vor sich und sitzen in einem anderen Raum. Ich hingegen habe einen ganz kleinen Monitor und am liebsten hätte ich sogar noch ein Tuch über dem Kopf, damit ich mich in einen Tunnel begeben und mich voll auf das Schauspiel konzentrieren kann. Ich brauche dies, um ruhig und fokussiert arbeiten zu können. 

Ein dominantes Auftreten entspricht also nicht Ihrem Naturell?

Ich glaube sehr an das Kollaborative und die gemeinsame Schöpfung, sehe die Regie nicht als die alles beherrschende, gewaltvolle, laute Stimme, die alle das Fürchten lehrt. Ich habe aber auch schon erlebt, dass es Regisseure gibt, die einen sehr lauten, autoritären, hierarchischen (Führungs)stil pflegen. Dies entspricht definitiv nicht meinem Ansatz. Wobei ich natürlich auch meinen Stil und meine Vision habe und sehr weit gehe, um dies verteidigen zu können. 

Gruppenfoto rund um Private Banking mit David Sandreute, Bettina Oberli und Thomas Ritter

Gemeinsam mit Thomas Ritter (links) und David Sandreuter schrieb die Bernerin das Drehbuch zu «Private Banking». Bild: SRF/Sava Hlavacek

Man hat teilweise schon noch dieses mittlerweile eher antiquierte Bild im Kopf des Regisseurs als dominante Instanz, der am Filmset im Stile eines Patrons auftritt.

Ja und dies gibt es tatsächlich nach wie vor. Allerdings glaube ich nicht, dass dieses Modell eine Zukunft hat, sondern dass ein autoritärer Stil die Kreativität eher erstickt. 

Letztes Jahr führten Sie Regie bei der Miniserie «37 Sekunden», bei der es um nicht einvernehmlichen Sex geht. Aktuell arbeiten Sie an der sechsteiligen Serie «Verlangen», wobei das Thema Sexsucht behandelt wird. Sind Sexualthemen etwas, wo Sie aktuell eine gewisse Dringlichkeit und Aktualität sehen, dass Sie sich solchen annehmen?

Es ist eher dem Zufall geschuldet, denn auch bei diesen beiden Projekten geht es im Kern um Familie. Bei «37 Sekunden» geht es um einen sexuellen Übergriff, der innerhalb dieser Familie eine grosse Rolle spielt und bei «Verlangen» ist die Suchtthematik und wie eine Familie damit umgeht, zentral. Die Frage wird gestellt, ob es möglich ist, mit einer suchtkranken Person – ob es nun eine Sex-, Alkohol- oder Drogensucht ist – eine Beziehung zu führen, sei es als Familie oder Partner. Ich glaube, deswegen kommen diese Inhalte zu mir, denn in meiner ganzen Arbeit geht es um Familiendynamiken. 

«Verlangen» ist eine deutsch-belgische Koproduktion. Wie viel braucht es als Schweizer Filmemacherin, um sich in Deutschland einen Namen zu machen? Denn es ist klar, in Deutschland hat niemand auf jemanden aus der kleinen Schweiz gewartet.

Dies hat wohl schon mit meiner Arbeit zu tun. Ich habe das Glück, dass meine Filme auch in deutschen Kinos liefen und ich bin mittlerweile schon ziemlich lange im Filmgeschäft. Es war also eine Folge daraus, dass die Leute meine Arbeit gesehen haben. So war mein dritter Kinofilm «Tannöd» von 2009 bereits eine deutsche Produktion. Auch «Die Herbstzeitlosen» kennt man nach 18 Jahren in Deutschland nach wie vor. Ich denke, es war in meinem Fall eine Entwicklung, bei der ich Chancen erhielt und diese nutzte. Wichtig war dabei, keine Angst zu haben, obwohl ich eigentlich jedes Mal meine Komfortzone komplett verlasse. Bei «Verlangen» zum Beispiel kannte ich vor dem Dreh absolut niemanden, sprang ins kalte Wasser. Ich nehme solche Herausforderungen jedoch gerne an. 

Das heisst, es geht primär über Inhalte, sprich erfolgreiche Filmprojekte, bei denen man mitgewirkt hat? Oder spielen auch die Agentur und das Netzwerk eine wichtige Rolle?

Ich habe erst seit rund zwei Jahren eine Agentur in Berlin, davor machte ich alles selbst. Mittlerweile habe ich tatsächlich ein ziemlich grosses Netzwerk, was sich am Beispiel von «37 Sekunden» zeigt: Das Projekt kam zu mir, da mit David Sandreuter einer der beiden Autoren damals mit mir «Private Banking» schrieb. Er schlug dann mich für die Regie vor. Mit ihm schreibe ich nun auch meinen nächsten Kinofilm «Das Nest». Es gibt also Kollaborationen, die über mehrere Jahre entstehen und die es zu pflegen gilt. Also ja, das Netzwerk ist wichtig. Wenn Filme oder Serien gut ankommen und für Preise nominiert werden, hilft das ebenfalls, denn dies ist für Produzenten durchaus relevant. 

Portrait von Regisseurin Bettina Oberli

Bettina Oberli freut sich jeweils darauf, nach Dreharbeiten im Ausland nach Hause in Zürich zurückzukehren. Bild: Maurice Haas

Das ist natürlich positiv, dass Inhalte eine so zentrale Rolle spielen und in der Kultur keineswegs selbstverständlich. Oftmals dominieren ja kommerzielle Kriterien.

Das ist so. Es kommt teilweise einem Spagat gleich – zumal Film eine sehr eigenartige Kunstform ist, denn es gibt immer einen kommerziellen Aspekt. Dies weil das Filmemachen unglaublich teuer ist. Gleichzeitig hat es auch etwas sehr Künstlerisches, da es auf einer sinnlichen Ebene die Zuschauerin vereinnahmt und Welten suggeriert, die nicht existieren. Als Rezipientin taucht man mit seinen ganzen Emotionen in diese Welt ein, die nur auf einem Bildschirm oder einer Leinwand existiert. Der Spagat, Film als Kunstform ernst zu nehmen und gleichzeitig um eine Daseinsberechtigung zu kämpfen, ist nicht einfach. 

Was heisst das für die tägliche Arbeit?

Man muss das teilweise ausblenden können. Wenn ich Szenen drehe und Schauspieler inszeniere, denke ich nicht daran. Dann geht es für mich darum, wie ich möglichst wahrhaftig den Moment kreieren kann, wie ich ihn mir vorstelle. Und nicht, was der grösste Effekt wäre, um ein möglichst grosses Publikum zu erreichen. Weil das Interesse an einer Glaubwürdigkeit in meiner Arbeitsweise so wahrhaftig ist, finden die Leute in meinen Werken wiederum Anknüpfungspunkte. 

Darf im Hinterkopf entsprechend auch nicht die Überlegung gemacht werden, sich im Zweifel lieber für die budgetschonendere Variante zu entscheiden?

Teilweise kommt man nicht darum herum. Aber ich versuche schon immer Lösungen zu finden, die im Sinne meiner Filmidee sind. Das Beispiel «Neumatt» zeigt, dass eine günstigere Variante sogar ausdrucksstärker und effektiver sein kann. Auch was die Besetzung anbelangt, spielen finanzielle Aspekte natürlich eine Rolle. Bei «Verlangen» beispielsweise sprach ich mit Akteuren, die eine deutlich grössere Reichweite gehabt hätten und es wurde gehofft, dass ich mich aus produktionellen Gründen für diese entscheide. Doch mit den beiden Hauptdarstellern, für die ich mich entschied, passte es einfach am besten. 

Welche Trends spielen diesbezüglich sonst noch eine Rolle?

Etwas, was in den kommenden Jahren noch viel mehr aufkommen wird, ist der Einfluss von Social Media: Leute mit grosser Reichweite sollen in Filmen mitwirken. Damit werden Filmemacher mittlerweile ständig konfrontiert. Plötzlich ist es bei der Rollenvergabe relevant, wie viele Follower eine Schauspielerin hat. Als Filmemacherin muss man sich teilweise gegen solche Einflüsse wehren. 

Gruppenfoto der Crew der SRF-Serie Emma lügt mit Laura de Weck und Bettina Oberli

2022 inszenierte Bettina Oberli (oben rechts) die SRF-Miniserie «Emma lügt». Neben ihr Drehbuchautorin Laura de Weck. Bild: SRF/Samuel Schalch

Sie arbeiten parallel zu «Verlangen» an «Die Inseln», Ihr erster langer Dokumentarfilm. Was hat es damit genau auf sich?

Es handelt sich um ein längerfristiges Projekt, bei dem ich noch am Drehen bin und selbst produziere. Ich arbeite dafür nur mit einem kleinen Team zusammen, möchte das Projekt nah bei mir halten. Auch hierbei geht es im Kern um die Frage, was eine Familie wirklich ist, wofür ich meine eigene Familie begleite. Dazu habe ich einige interessante Drehbücher auf dem Pult liegen. Ich möchte mich in nächster Zeit grundsätzlich wieder mehr dem Kino zuwenden. 

Tatsächlich haben Sie in letzter Zeit bei mehreren Serien Regie geführt. Was reizt Sie an diesem Format?

Bei Miniserien gefällt mir, dass man ein Thema von verschiedenen Seiten beleuchten, mit mehr Figuren arbeiten und beim Erzählen in die Tiefe gehen kann. Man muss die Handlung nicht vorwärtspeitschen, hat schlicht mehr Zeit dafür als bei einem Film. Ausserdem ist es toll, zu drehen, denn oftmals muss man warten, bis ein Projekt grünes Licht erhält oder die Finanzierung gesichert ist. Drehen ist für mich auch ein Training, bei dem ich jedes Mal enorm viel dazulerne. So drehte ich vor zwei Jahren «Nachts im Paradies» mit Jürgen Vogel. Dabei handelt es sich um die Verfilmung einer Graphic Novel, was visuell komplett anders war als alles, was ich in der Vergangenheit gemacht habe. 

Sind Sie jemand, der gut parallel an mehreren Projekten arbeiten kann oder haben Sie dann das Gefühl, Sie können den einzelnen Projekten nicht gerecht werden?

Ich mag dieses mehrgleisige Arbeiten tatsächlich. So schrieb ich parallel zum Dreh von «Verlangen» noch an «Das Nest». Was mir weniger zusagt, ist, wenn ich beim Dreh Löcher dazwischen habe – da geht zu viel Energie verloren. 

Wie muss man sich das als Laie vorstellen, nachdem die Dreharbeiten abgeschlossen sind, wie sehr kann ein Film oder eine Serie im Schnitt noch ein anderes Gesicht erhalten?

Es gibt beim Film drei schöpferische Phasen: das Schreiben, den Dreh und den Schnitt. Ich bin jemand, der beim Schneiden sehr eng involviert ist und es ist eine meiner bevorzugten Schaffensphasen, denn im Schnitt kann man nochmals richtig kreativ werden. Ich mag es, während des Drehs möglichst viel Material und verschiedene Spielversionen zu sammeln, um anschliessend eine Art Bibliothek zur Verfügung zu haben, mit der sich die Serie oder der Film gestalten lässt. Es geht also nicht darum, den einen perfekten Moment zu inszenieren, sondern möchte ich mit den Schauspielerinnen auch ausprobieren. Oftmals wird viel Dialog rausgeschnitten, der im Drehbuch notwendig war, um eine Szene zu verstehen. Beim Dreh erübrigt es sich dann, weil Mimik, Bilder, Ton und Gesten vieles erklären. Teilweise werden Szenen umgestellt, sodass sie dramaturgisch einen anderen Platz erhalten.  

Gruppenfoto von Die Herbstzeitlosen mit Regisseurin Bettina Oberli. Sie sitzen auf einer Bank

Mit «Die Herbstzeitlosen» gelang Bettina Oberli (Mitte) 2006 der grosse Durchbruch. Bild: SF DRS/Lukas Unseld

Dies klingt aber auch nach harter Arbeit.

Ja, es nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Oftmals denkt man auch ausserhalb der Arbeitszeit darüber nach, was zeigt, wie intensiv dieser Prozess sein kann. Aber mir gefällt es sehr und wenn ich Filme nicht inszenieren würde, wäre Cutterin wohl mein Beruf der Wahl. 

Was haben Sie im Anschluss, wenn ein Film oder eine Serie fertig produziert ist, für eine Beziehung dazu? Haben Sie mit dem Projekt dann abgeschlossen und möchten sich auf anderes fokussieren oder beschäftigen Sie sich weiterhin damit?

Wie der Film oder die Serie ankommt, bekommt man automatisch mit. Bei Premieren oder Festivals sehe ich meine Filme natürlich, aber einfach so schaue ich sie selten. Irgendwann schliesse ich mit einem Projekt tatsächlich ab. Im Frühling war ich in Kalifornien zu einer Retrospektive eingeladen, wobei «Die Herbstzeitlosen» einer der gezeigten Filme war. Dies war berührend für mich, denn ich habe den Film lange Zeit nicht mehr gesehen. Es ist schon erstaunlich, wie er auch nach 18 Jahren und mit einem amerikanischen Publikum immer noch funktioniert. Er löst bei den Leuten einfach etwas aus. Bemerkenswert ist auch, dass ich mich nach all den Jahren praktisch bei jeder Szene immer noch erinnern kann, wann und wo wir drehten und wer wie gelaunt war. Sprich, mit dem Film kommt jeweils stark auch die Erinnerung ans Machen zurück. 

Sehen Sie «Die Herbstzeitlosen» heute anders als vor 18 Jahren?

Natürlich fällt mir dabei vieles auf, aber was, verrate ich nicht (lacht). Man darf nicht vergessen, dass wir den Film innerhalb relativ kurzer Zeit und mit vergleichsweise geringem Budget als Fernsehfilm drehten. Niemand rechnete damit, dass er dermassen durch die Decke gehen würde. Vielleicht trägt der Umstand, dass nicht mit der grossen Kelle angerührt wurde, zur Ehrlichkeit des Films bei. 

Bei der Filmproduktion gibt es ein grosses Ensemble, das teilweise wie eine grosse Familie harmonieren kann. Wie schmerzhaft kann es sein, dass man nach Abschluss des Projekts wieder getrennten Weges gehen muss, denn handelt es sich immer um eine Familie auf Zeit?

Das ist ein grosses Thema, wobei ich mich mittlerweile daran gewöhnt habe. Man kann sich nicht jedes Mal mit viel Herzschmerz dazu zwingen, nach einem Dreh zurück in den Alltag zu finden – es braucht einen gewissen Pragmatismus. Ich spüre, wie jüngere Schauspielerinnen emotional werden, wenn sich der Dreh dem Ende zuneigt. Zu Beginn meiner Karriere war das für mich auch noch anders, ich empfand jede Trennung als sehr schlimm und war entsprechend traurig, wenn ein Dreh zu Ende ging. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Zitat von Regisseur Aki Kaurismäki in den Sinn: «Film ist nicht wichtig, das Leben ist wichtig.» Film ist Illusion und nicht das echte Leben. Und so ist die Filmfamilie tatsächlich nur eine auf Zeit, wohingegen einen die «tatsächliche» Familie durchs ganze Leben begleitet. 

Heisst das, es ist auch eine gute Lebensschule, da man lernt, Abschied zu nehmen und loszulassen?

Absolut, wobei einem in der kleinen Schweizer Filmwelt auf Anlässen oder bei Drehs gewisse Akteure immer wieder begegnen. Ich versuche auch, immer wieder mit denselben Leuten zu arbeiten. In einem grösseren Filmland geht man viel eher davon aus, dass sich die Wege vermutlich nie wieder kreuzen werden. 

Zur Person

Bettina Oberli (51) wurde in Interlaken geboren und wuchs in Meiringen und Samoa auf. Sie absolvierte das Lehrerseminar in Bern und studierte an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich Film/Video inklusive Diplomabschluss als Filmregisseurin. Ihren bislang grössten Erfolg feierte sie 2006 mit «Die Herbstzeitlosen», der in der Schweiz wie im Ausland auf grosses Interesse stiess und 2007 den offiziellen Beitrag für die Academy Awards bildete. Im Jahr darauf realisierte sie ihren ersten französischsprachigen Spielfilm «Le vent tourne», der in Locarno den Variety Piazza Grande Award gewann.  

2020 war sie Drehbuchautorin und Regisseurin beim Film «Wanda, mein Wunder», bevor sie sich verstärkt Serien zuwandte. Dazu zählen unter anderem «Emma lügt», «37 Sekunden» und «Nachts im Paradies». Für die dritte und letzte Staffel der SRF-Serie «Neumatt» führte sie gemeinsam mit Cosima Frei Regie. Aktuell inszeniert Oberli die sechsteilige Serie «Verlangen», die voraussichtlich kommendes Jahr veröffentlicht wird. Parallel dazu arbeitet sie am Dokumentarfilm «Die Inseln» sowie am Kinofilm «Das Nest». 

Bettina Oberli hat auch am Theater und in der Oper inszeniert. Sie ist Mitglied der Schweizer und Europäischen Filmakademie, lebt in Zürich und hat zwei Söhne (18 und 21 Jahre). 

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