Hingehört bei der Raumplanung

HSLU-Forschende setzen auf Augmented Reality

Mithilfe von Augmented Reality wollen Forschende der Hochschule Luzern die Raumplanung für alle erlebbar machen. Auf einer Autobahnbrücke in Kriens werden dafür erstmals zwei Sinne im digitalen Raum miteinander verbunden.

Ganze Gruppen von Menschen bewegten sich gemeinsam durch die Stadt und erkundeten mit ihrem Smartphone in der Hand dabei architektonische Landmarken. Dahinter steckte das Mobile Game Pokémon Go, welches 2016 einen wahren Hype auslöste und der zuvor bereits bekannten Technik der Augmented Reality (AR) einen neuen Schub verlieh. AR, also die erweiterte Realität, nutzt die Kamera sowie Sensoren eines mobilen Gerätes und erzeugt eine digitale Welt, in der wir uns bewegen können, die allerdings nur auf dem Smart Device sichtbar wird.

Mann hält Smartphone mit AR-Anwendung vor Strasse

So könnte eine autofreie Waldstätterstrasse aussehen. Bild: Hochschule Luzern

Mit der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones und deren rascher Entwicklung wurde auch die AR-Technik für zahlreiche Einsatzgebiete attraktiv – vom Ingenieurswesen über die Kunstwelt bis hin zum Einsatz bei der Wohnungsgestaltung mittels der App eines grossen schwedischen Möbelhauses. An der Hochschule Luzern (HSLU) beschäftigt sich auch Dozent Tobias Matter schon lange mit den Möglichkeiten und dem Potenzial von AR. Dabei geht es vor allem um die Einbindung in die partizipative Stadtentwicklung, also eine gemeinsame Raumplanung.

Kampf dem Lärm

Im Rahmen des Innosuisse-Projekts «Augmented Planning: Enabling broader participation» arbeiten die Forschenden der HSLU gemeinsam mit der Stadt Luzern und den Unternehmen Planteam S und Sinus seit September 2022 an mehreren Raumplanungsprojekten, die mithilfe von Augmented Reality erlebbarer und demokratischer gemacht werden sollen. Eines der Fallbeispiele führt die WissenschaftlerInnen auf die Arsenal-Brücke in Kriens. Hier führt die Autobahn A2 für einen Kilometer durch die Stadt und erzeugt dabei den vertrauten Lärm von zahlreichen Autos. Eine angestrebte Teilüberdachung des Autobahnstücks soll dies beheben und damit zugleich die Lebensqualität der Anwohnenden verbessern.

Mit der AR-Technik sollen mögliche Zukunftsszenarien für Kriens dargestellt werden. Verschiedene Varianten für die Überdachung des Autobahnteilstückes sollen dabei nicht nur visuell dargestellt werden, sondern erstmalig auch mit akustischen Elementen verbunden werden. «Akustik und Lärm sind bei der Raumplanung bisher extrem schwer greifbar», erklärt Tobias Matter. Dabei sind nicht nur die recht abstrakten Dezibelangaben gemeint, sondern auch der Einfluss auf den eigenen Alltag. Mithilfe von modernen Kopfhörern, welche die Umgebungsgeräusche ausblenden können und zugleich mit Bewegungssensoren ausgestattet sind, wird auf der Autobahnbrücke ein Hörerlebnis für die Anwendenden geschaffen. Zusammen mit der Darstellung der Überdachung auf dem Tablet werden so gleich zwei Sinne bedient.

Porträtfoto Tobias Matter: blaues Hemd, Brille, braune Haare

Tobias Matter arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Visual Narrative an der HSLU. Bild: Hochschule Luzern

«Aus fachplanerischer Sicht hat sich gezeigt, dass die multisensorische Darstellung mit AR ein grosses Potenzial hat», erklärt Matter. Dabei steckt die AR-Akustik noch in den Kinderschuhen. Für die Erzeugung eines dreidimensionalen Klangs benötigt man vor allem die richtigen Daten. Je früher das Stadium eines Bauplanungsprojekts, desto abstrakter sind natürlich die Darstellungen. So können Gebäude auch verständlich als graue Rechtecke in der Umgebung präsentiert werden, bevor die finale Architektur feststeht. Aber wie stellt man diese Unschärfe beim Ton dar?

Es ist eine der Fragen, an denen die HSLU-Forschenden und die Partner des Projekts forschen, welches bis November 2025 finanziert ist. Ebenso stellt sich hier die Frage nach der Kalibrierung der Hardware, sodass auch alle bei der AR-Besichtigung vor Ort in der identischen Lautstärke hören und wie genau man akustische Unterschiede überhaupt wahrnehmen kann. Kann das Laienpublikum einen Unterschied zwischen Modell 2 und Modell 3 der Überdachung hören? Oder sollte es vor allem um die Erlebbarkeit der Simulation gehen anstelle einer möglichst genauen Abschätzung der zukünftigen Realität? Diese Fragen beschäftigen die Forschenden noch in den nächsten Wochen und Monaten. Zu der konkreten Zielgruppe für die AR-Anwendung gehören auch die politischen EntscheidungsträgerInnen, die seitens der eigenen Verwaltung für Bauprojekte überzeugt werden müssen.

Winter an der Waldstätterstrasse

Potenziell liessen sich mit Blick in die Zukunft auch noch mehr Sinne in die erweiterte Realität einbauen. So gibt es bereits Handschuhe für ein haptisches Feedback und wenn man an eine Autobahn denkt, kommt einem nach dem Lärm vielleicht auch noch der Geruch in den Sinn. «Wir sind schon sehr zufrieden, wenn wir Hören und Sehen intuitiv und kosteneffizient verbinden können. Es sollte beim Aufwand nicht ausufern, sondern vor allem im Alltag einsetzbar sein», sagt der Luzerner AR-Spezialist. Dabei profitiert man auch vom technischen Fortschritt bei den Smartphones. So sind 5G für einen schnelleren Datentransfer und ein Lidar-Sensor zur Abstandsmessung heutzutage in immer mehr Geräten verbaut. Hinzu kommt noch die Vertrautheit mit zahlreichen Apps auf dem eigenen Smartphone, die ideale Bedingungen für eine breite Anwendung der AR-Technik schafft.

Dabei setzen die Forschenden der HSLU sowohl auf die quantitative als auch auf eine qualitative Datenerhebung. Bei der Neugestaltung der Waldstätterstrasse in Luzern wurden so QR-Codes an Plakatstellen platziert, mit denen Interessierte selbstständig in die Raumplanung einsteigen konnten. In einer 3D-Ansicht liess sich so der zukünftige Park erkunden, inklusive des Wechsels der Tages- und Jahreszeit sowie unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Quartier. Am Ende wartete noch eine Umfrage zu möglichen Wasserelementen im Park auf die Teilnehmenden. Rund 230 Rückmeldungen gab es dabei für das Forschungsteam – eine Bestätigung des Interesses an der eigenen Quartierplanung.

Gruppe in gelben Westen und Smart Devices in den Händen in der Stadt

Die Zukunft der Raumplanung: eine AR-Führung an der Luzerner Bahnhofsstrasse. Bild: Hochschule Luzern

Ausserdem werden Führungen mit den Forschenden angeboten. Daran sind zwar weniger Menschen beteiligt, dafür kann der AR-Blick in die Zukunft mit einer besseren Technik durchgeführt werden. Wie auf der Krienser Autobahnbrücke gibt es ein Tablet in die Hand und Diskussionen können direkt vor Ort geführt werden. Die ständigen Feldversuche der WissenschaftlerInnen sind auch für das kleine und grosse Feedback wichtig. Ob Verbesserungspotenzial bei der Bedienung der webbasierten AR-App oder der Wunsch nach neuen Perspektiven im Raum, denn normalerweise stellt die AR-App den eigenen Blickwinkel dar. «Wir entwickeln nicht im stillen Kämmerlein», sagt Matter.

Werkzeugkasten und Gamification

Mit einer aktiveren Einbindung der Bevölkerung in die Raumplanung kann nicht nur über deren zukünftige Prozesse nachgedacht werden, sondern es könnte auch ein besseres Verständnis für die Kosten entstehen. Wie verändert sich die Sichtweise, wenn bei einem geplanten Projekt zusätzlich die erwarteten Kosten angezeigt werden? Und auch die sogenannte Gamification, also die Anwendung von spielerischen Elementen in einem anderen Kontext, könnte bei der AR-Planung eine Rolle spielen. So könnten etwa AnwohnerInnen selbst mit einem vorgegebenen Budget einen digitalen Spielplatz in ihrer Nachbarschaft bauen, um ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen Kosten und Nutzen zu bekommen. Und vielleicht erreicht man durch die spielerische Herangehensweise auch diejenigen, die von der Raumplanung am stärksten betroffen sind und sich privat schon so gut mit Games auskennen: die Kinder und Jugendlichen.

AR-Modell von Park mit Bäumen, Menschen und Pavillon

Ein komplettes AR-Modell des geplanten Parks im Glarner Stadtzentrum. Bild: Hochschule Luzern

Am Ende des Forschungsprojekts von Innosuisse soll ein AR-Werkzeugkasten stehen, der im Idealfall für möglichst viele Raumplanungsvorhaben genutzt werden kann – vom kleinen Spielplatz bis zum grossen Fussballstadion. «Wir entwickeln Funktionalitäten, die nicht bei jedem Projekt relevant sind. Die KundInnen unserer PraxispartnerInnen sollen sich aussuchen, welche AR-Funktionen für sie relevant sind», erklärt Matter. Ein digitaler Leitfaden und eine wissenschaftliche Tagung sollen bis Ende 2025 ebenfalls noch folgen, damit am Ende ein möglichst breites Publikum auf den Geschmack der AR-Planung kommt.

Einen Kommentar hinterlassen