Sie haben sich auf die Fahne geschrieben, Zürich zur «empathischsten Stadt der Welt» zu machen: Sonja Wolfensberger und Tanja Walliser. Doch wie wollen sie dieses hehre Ziel erreichen? Wir haben bei Sonja Wolfensberger nachgefragt.
Im Oktober haben Tanja Walliser und Sonja Wolfensberger die Bewegung «Empathie Stadt Zürich» aus der Taufe gehoben. Ihr Ziel: «Zürich zur empathischsten Stadt der Welt zu machen.» Dafür bieten sie unter anderem Trainings zum Thema Empathie und Konfliktlösung gemäss der Gewaltfreien Kommunikation an und unterstützen Parteien sowie Aktivistinnen und Aktivisten bei deren Kampagnenführung. Was die beiden mit «Empathie Stadt Zürich» sonst noch alles vorhaben, verrät Sonja Wolfensberger im Interview.
Frau Wolfensberger, wie seid ihr auf die Idee gekommen, Zürich «zur empathischsten Stadt der Welt» machen zu wollen?
Tanja Walliser und ich kommen ursprünglich aus unterschiedlichen Richtungen. Tanja ist seit jeher politisch und aktivistisch unterwegs. Sie war Gewerkschaftssekretärin, Campagnerin und Parlamentarierin. Ich stamme aus einem sehr politischen Elternhaus – ihre Haltung: links und manchmal radikal. Mich als Jugendliche hat dies eher abgeschreckt, insbesondere die politische Gewalt, weswegen ich mich Politischem vorerst verschloss. Ich wählte einen anderen Weg, konzentrierte mich auf den individuellen Ansatz und studierte Psychologie sowie Philosophie. Tanja auf der anderen Seite entschied nach einem Burnout, sich mehr mit der individuellen Welt auseinanderzusetzen. Sie fand mich auf Facebook, sah, dass ich in meiner Tätigkeit den Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation (Nonviolent Communication, NVC) verfolge, dem sie mehr Aufmerksamkeit schenken wollte und kontaktierte mich. Das ist nun drei Jahre her. Es entstand sowohl eine tiefe Freundschaft als auch eine Zusammenarbeit. Im Rahmen der letzten Kantons- und Nationalratswahlen engagierte mich Tanja als Kommunikationscoach für ihr Campaigning-Team. Dadurch zog sie mich wieder in die politische und aktivistische Welt hinein. Ich realisierte, dass es auf diese Weise möglich ist, das Zwischenmenschliche in die Politik einzubringen. Ein Jahr darauf fällte Tanja den Entschluss, ihre Stelle zu kündigen, um sich voll darauf zu konzentrieren, NVC und Aktivismus zu verbinden. Die Idee des Projekts «Empathie Stadt Zürich» entstand und im Herbst letzten Jahres machten wir uns an die Gründung. Wir bieten unsere Workshops und Trainings in Zürich sowohl für aktivistische Gruppen als auch sämtliche Menschen an, die sich für die Themen Empathie und Konfliktlösung interessieren.
Das heisst, «Empathie Stadt Zürich» ist politisch?
Wir sind eine Bewegung für sozialen Wandel, falls man dies als politisch bezeichnen möchte. Ich glaube, es ist ein politischer Akt, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen und zu lernen, diese in Konfliktsituationen so zu kommunizieren, dass Kooperationsbereitschaft zurückkehrt. Uns interessiert nicht bloss, wie zwei Menschen miteinander sprechen, sondern wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen können. Meiner Meinung nach sind der individuelle und der politische Aspekt derart miteinander verbunden, dass sie sich nicht einfach trennen lassen. Ich kann es jedenfalls nicht.
Ihr seid im Oktober gestartet. Was habt ihr seither alles schon für «Empathie Stadt Zürich» in die Wege geleitet?
Bereits vor dem geplanten offiziellen Launch tätigten wir erste Posts auf Instagram. Unerwarteterweise entstand dadurch schon eine solche Dynamik, dass der offizielle Launch obsolet wurde und wir uns entschieden, gleich mit unserer Arbeit zu beginnen. Es kamen bereits Aufträge aus politischen und aktivistischen Kreisen für Kurse rein. Wir machen Teambegleitungen, führen Kurse durch und mediieren Konflikte. Wir operieren aktuell ähnlich wie ein Start-up – mit dem Unterschied, dass wir nicht profitorientiert arbeiten. Man kann für jenen Betrag unsere Kurse besuchen, den man für richtig hält. Geld ist ein Mittel, um unsere Bewegung zu ermöglichen.
Mit welchen Projekten und Initiativen arbeitet ihr aktuell zusammen?
Wir sind sowohl mit politischen Parteien als auch mit aktivistischen Gruppierungen wie dem Klimastreik, Critical Mass und Zero–Waste–Projekten verbunden. Ausserdem arbeiten wir mit Schulen und Familien zusammen. Bei den Anfragen an uns geht es jeweils um Empathie und Konfliktlösung – ausserdem um die Führung von Kampagnen, bei denen es nicht darum gehen soll, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wir sind grundsätzlich an Zusammenarbeiten mit Menschen interessiert, die sich sozial und ökologisch engagieren.
Warum fiel die Wahl auf Zürich als Empathiestadt? Einfach weil ihr in Zürich zuhause seid oder seid ihr der Meinung, Zürich hat einen Empathieschub besonders nötig?
Wir sagen das nicht, jedoch reagieren die Leute oftmals so, wenn wir ihnen von unserem Projekt erzählen. Dann kommt umgehend «Warum Zürich?! Das ist der schwierigste Ort dafür». Aber klar: Am handlungsfähigsten sind wir dort, wo wir zuhause sind, unser Netzwerk haben und so auf die Unterstützung von Familie und Freunden zählen können. Wir handeln nach dem Motto «act locally, think globally». Sprich, wir beginnen dort, wo wir sind und haben dabei die globale Perspektive stets im Blick. Wir stehen mit Menschen rund um die Welt in Kontakt, die sich für Empathie einsetzen. Wir sehen uns als einen Teil einer globalen Bewegung hin in Richtung mehr Empathie. Ich spüre, wie immer mehr Menschen realisieren, wie wichtig empathischer Dialog und Zuhören sind – Kompetenzen, die global leider äusserst unterentwickelt sind. Und ja, wer weiss, vielleicht wird es irgendwann «Empathie Stadt Luzern» oder «Empathie Stadt Bern» oder gar «Empathie Schweiz» geben.
Sie sprechen das Zuhören an. Haben Sie das Gefühl, diese Fähigkeit ist in den vergangenen Jahren vermehrt verlorengegangen?
Es gibt Gesellschaften, welche die Kunst des Zuhörens kultiviert haben. Was die dominierende Gesellschaft auf dieser Welt anbelangt, ist diese Fähigkeit leider verkümmert. Sowohl was das Zuhören gegen aussen anbelangt, sprich, wie es anderen Menschen geht, als auch das Zuhören nach innen – auch Selbstempathie genannt. Die dominante globale Gesellschaft ist extrem auf Leistung und Vorwärtsmachen ausgerichtet. Platz, um innezuhalten, abzuwarten und hinzuhören, bleibt da kaum.
Auf der Suche nach den Gründen dafür landet man früher oder später bei der Leistungsgesellschaft und schlussendlich beim Kapitalismus. Aber was glauben Sie, hat diese Verkümmerung verstärkt? Social Media? Digitalisierung?
Hierbei darf man nicht schwarz-weiss denken. Nehmen wir die Digitalisierung: Durch die Algorithmen wird mit unserer Aufmerksamkeit gespielt. Dies schwächt unsere empathische Fähigkeit, weil wir ständig Ablenkung erfahren. Gleichzeitig kann ich dadurch beispielsweise ein Empathie-Seminar halten und dabei Menschen aus der ganzen Welt einladen. So lerne ich ganze neue Perspektiven kennen. Wichtig ist, die positiven daraus resultierenden Effekte zu verstärken und die hinderlichen zu minimieren.
Immer wieder fällt der Begriff Empathie, der jedoch nur schwer greifbar und abstrakt ist. Wie definieren Sie für sich Empathie?
Die meisten Menschen kennen den Begriff, doch haben die wenigsten Klarheit darüber, was sie mit Empathie meinen. Kürzlich unterhielt ich mich mit einem Sprachphilosophen der Universität Zürich. Er erzählte mir von einem Paper, das besagt, dass in den letzten rund 50 Jahren in der Wissenschaft etwa 40 verschiedene Verwendungen des Begriffs der Empathie zu beobachten sind. Sprich, auch in der akademischen Welt herrscht keine Einigkeit darüber, was Empathie alles einschliesst. Eine für mich hilfreiche Definition für die Praxis ist jene, dass ich meine Aufmerksamkeit auf das Erleben meines Gegenübers lenke. Ich bin voll und ganz bei ihm und höre zu, wie es ihm geht. Es ist ein grosser Unterschied, ob man jemandem mit ungeteiltem Fokus zuhört oder ob man gleichzeitig bereits überlegt, was man antworten bzw. kontern könnte. Bei Letzerem ist man trotz zuhören mit der Aufmerksamkeit bei sich.
Das Gegenteil von Empathie wäre die Empathielosigkeit. Wie wichtig ist dieses Gegenstück bei eurer Arbeit?
Ich bin der festen Überzeugung, es gibt keinen Menschen, der ohne Potenzial für Empathie auf die Welt kommt. Manche Forscher gehen sogar davon aus, dass erst Empathie den Menschen zum Menschen macht. Empathie ist in unseren Genen – insofern gibt es so etwas wie Empathielosigkeit gar nicht. Aber es gibt Menschen, bei denen die Empathiekapazitäten durch Verletzungen wie gewisse frühkindliche Erlebnisse oder Traumata immer weiter verkümmern. Wir fokussieren uns darauf, diese Kapazitäten wieder zu vergrössern.
Und NVC ist ein Weg, diese Kapazitäten wieder auszubauen?
Absolut. Wobei es natürlich nicht der einzige Ansatz ist, der funktioniert. Für mich persönlich war und ist er jedoch der hilfreichste.
Wir legen nach drei Wochen jeweils eine einwöchige Online-Pause ein.
Wie würden Sie jemandem den Begriff NVC erklären, der diesen Ausdruck noch nie gehört hat?
Fällt der Begriff «Nonviolent Communication», folgt als erste Reaktion bei vielen Leuten der Satz «aber ich bin ja nicht gewalttätig. Ich brauche das nicht». Ich verstehe diese Reaktion, doch geht es nicht darum, gewalttätige Menschen wieder friedlich zu machen. NVC steht für zwei Dinge: NVC-Begründer Marshall B. Rosenberg lehnt sich an Personen wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King und deren gewaltfreien Bewegungen an, was einen sozialaktivistischen Ansatz mit sich bringt. Zudem bedeutet der Begriff für mich, dass wir nicht nur auf der Handlungs- sondern auch auf der Gedanken- und Sprachebene Muster haben, die uns mitgegeben werden und Gewalt ermöglichen.
An was für Muster denken Sie dabei?
Beispielsweise an Urteile, Vergleiche oder den Denkansatz, die Autorität darüber zu besitzen, zu entscheiden, was richtig und falsch ist. Wenn ich mir die Autorität herausnehme, mit 100-prozentiger Sicherheit zu wissen, dass du falsch liegst, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich dir Gewalt antue.
Was gibt es für Momente im Alltag, bei denen Sie selbst in solche Muster fallen?
Mir kommt hierbei das Thema internalisierter Kapitalismus in den Sinn. Sprich, dass ich mich über meine Produktivität, Leistungen und mein Schaffen definiere. Diese Muster sind so tief in mir verankert, dass sie vielleicht immer in mir wirken werden. Dass wir auf Instagram unterwegs sind, bringt ausserdem eine toxische Bespielung durch Likes und Klicks mit sich. Dies wirkt natürlich auch auf mich. Um uns davor etwas zu schützen, legen wir jeweils nach drei Wochen eine einwöchige Online-Pause ein.
Ihr seid noch sehr jung, entsprechend kennt man «Empathie Stadt Zürich» noch in einem verhältnismässig kleinen Kreis. Wie könnt ihr durch eure Aktivitäten trotzdem schon im Unterbewusstsein ausserhalb eurer «Bubble» ankommen?
Ich weigere mich, in einer Welt zu leben, in der nur riesige und laute Aktionen einen Einfluss auf unsere Welt haben. Ich bin sicher, auch die kleinen Momente eines empathischen Zuhörens beeinflussen unsere Welt. Natürlich ist unser Empathiesamen noch klein – doch spüre ich bereits, wie unser Netzwerk stetig wächst und Leute auf uns zukommen. Und ich spüre, wie bereit die Menschen für Empathie sind. Dass uns schon so viele Leute für eine Zusammenarbeit kontaktieren, hätten wir nie erwartet.
Die allermeisten Menschen leben in einer natürlichen Blase, haben beispielsweise einen Freundeskreis mit ähnlichen Ansichten. Was habt ihr für Feedbacks für «Empathie Stadt Zürich» von Leuten ausserhalb der Blase bislang bekommen?
Natürlich gibt es Menschen, die uns in die «Gspürsch mi, fühlsch mi»-Ecke stellen. Dies sind vorwiegend Leute aus dem linken Lager. Aus der bürgerlichen, wirtschaftsliberalen Ecke ist eher zu hören, wir seien viel zu antikapitalistisch eingestellt. Das Spannende ist, dass Empathie einen gemeinsamen Nenner bildet. Wenn jemand bei unseren Social-Media-Beiträgen kritisch kommentiert, reagieren wir empathisch. Dies weckt auf der Gegenseite wiederum Interesse. So wurden wir von jemandem, der zuerst einen abwertenden Kommentar bei uns gepostet hat, zu seinem Podcast eingeladen. Ich habe auch die Idee, aus unserer «Bubble» auszubrechen und Begegnungsräume zu schaffen. Dabei soll über die grossen Themen dieser Welt diskutiert werden – und zwar von Leuten, die völlig unterschiedliche Ansichten vertreten.
Dies klingt nach viel Aufwand. Führen Tanja Walliser und Sie «Empathie Stadt Zürich» effektiv als Duo?
Tanja und ich haben den Stein ins Rollen gebracht, die gesamte Konzeptarbeit übernommen und leiten die Trainings. Wir haben allerdings ein grosses Netzwerk, das uns unterstützt, beispielsweise unsere Website gestaltet und Videos dreht. 10 bis 15 Leute unterstützen unsere NVC-Trainings zudem als Assistentinnen und Assistenten.
Während den Kursen hören Sie auch viel Leid der Teilnehmer/innen. Wie gehen Sie mit diesen Schilderungen von Angstzuständen oder Zukunftssorgen um?
Dabei hilft die Praxis der Selbstempathie enorm. Es ist hierbei wichtig, Hoffnung zu kultivieren. Angesichts des Leids besteht die Gefahr, hoffnungslos und zynisch zu werden. Ich übe mich stark darin, nicht dem Zynismus zu verfallen und mein Herz für die Trauer nicht zu verschliessen. Ich bin dankbar, Schmerz empfinden zu können, wenn jemand von seinem Leid erzählt, denn dies zeigt, dass ich mich immer noch berühren lasse.
Welche Schritte stehen als nächstes an für «Empathie Stadt Zürich»?
Diesen Monat möchten wir unsere Website fertiggestalten und im Sommer wird unser fixes Kursprogramm anlaufen. Die Kurse dauern jeweils acht Wochen. Daneben sind wir natürlich daran, unsere Community aufzubauen.
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