Der Verein Chamapedia arbeitet die Geschichte der Ennetseegemeinde auf. Nach dem grossen Vorbild Wikipedia werden hier historische Schauplätze mit dem Heute verbunden. Mit einem Filmprojekt zur ehemaligen Papierfabrik Cham möchte man den nächsten Schritt gehen.
Seit 2001 versorgt Wikipedia die freie Welt mit Informationen über das Leben, das Universum und die restliche Geschichte unserer Existenz. Die kostenlose Online-Enzyklopädie wird dabei von den eigenen Lesern und Leserinnen zusammengetragen und kuratiert. Die schiere Masse an Information sorgte nicht nur für den Niedergang der traditionellen Lexika, sondern lädt die Menschen auch zum Entdecken ein. Mit wenigen Klicks kommt man so schnell von einer Region auf der Weltkarte zu unbekannten Konflikten bis zu Systematik längst ausgestorbener Tiere.
Die Popularität der US-amerikanischen Enzyklopädie führte unter anderem dazu, dass sich eine gigantische Anzahl sogenannter Fan-Wikis entwickelte. Mit der offiziellen Wiki-Software bekam so fast jede Romanreihe und Fernsehserie ihr eigenes Wikipedia.
Ob Referenzen einer «Die Simpsons»-Episode oder die Familienverbindungen in G.R.R. Martins «Game of Thrones» lassen sich so problemlos nachverfolgen. Und auch Städte kamen auf die Idee, ihre eigene Geschichte im Internet zugänglich zu machen. Ein prominentes Beispiel ist das süddeutsche Würzburg, welches im WürzburgWiki seit 2009 über 27‘000 eigene Artikel zu Tage brachte.
Wetzikon als Vorbild
In der Schweiz gilt das Wetzipedia der Stadt Wetzikon (ZH) als Vorreiter auf diesem Gebiet. Als Thomas Gretener, Bürgerschreiber der Bürgergemeinde Cham, darauf stiess, war ihm sofort klar: Das ist es. Zuvor war die Kulturkommission auf der Suche nach einer modernen Form der «Pflege der Heimatverbundenheiten», wie das kantonale Gemeindegesetz eine der Aufgaben der Bürgergemeinden umschreibt.
Mit der der Originalsoftware von Wikipedia entstand ein erweiterbares Lexikon, welches am 16. November 2016 das Licht des Netzes erblickte. Damals betreute ein dreiköpfiges Redaktionsteam das Wiki, welches heute aus fünf Mitgliedern besteht.
Ein virtuelles Museum
Das aktuelle Projekt des Chamapedia-Teams befasst sich mit der Geschichte der Papierfabrik. Im Kalandersaal der ehemaligen Fabrik wurden 30 Personen interviewt, die eine Beziehung zur Papieri haben. Aktuell werden die entstandenen Filmaufnahmen thematisch aufgearbeitet und in einer Datenbank geordnet. Am Ende sollen dann daraus kleine Videobeiträge entstehen, die Teil eines virtuellen Museums werden. So spricht etwa einer der letzten Lehrlinge vom Niedergang der Papieri, eine Mitarbeiterin der Kantine erzählt vom Alltag und andere erwecken mit ihren Erzählungen die quietschende Papieribahn wieder zum Leben.
In Zusammenarbeit mit der Cham Paper Group sollen Ende 2022 auf dem ehemaligen Industriegelände Standtafeln entstehen, die von der Geschichte und Bedeutung des Chamer Unternehmens erzählen. Eine Seite der Tafel steht dabei Chamapedia zur Verfügung. Hier können Kurzinformationen, mit Fotos und Kurzfilmbeiträgen über einen QR-Code abgerufen werden.
Das Papieri-Areal selbst ist derzeit eine Grossbaustelle. In mehreren Etappen entsteht hier ein neues Quartier, welches am Ende je 1000 Wohnungen und Arbeitsplätze schaffen soll. Inmitten der geschichtsträchtigen Gebäude soll sich mit Grünflächen und Hochhäusern ein neuer Teil von Cham formen.
Laut Gretener gibt es zudem konkrete Überlegungen, auch einen eigenen Film zu produzieren. Zusammen mit historischen Aufnahmen und Filmen der Papierfabrik könnte so mit den Interviews ein 60-minütiger Film entstehen. Allerdings ist das Projekt noch nicht definitiv. Womit man allerdings rechnen kann, ist die Vorstellung vom virtuellen Museum Papierfabrik Cham im Frühling 2023. Mit einem grösseren Anlass möchte man das fertige Projekt dann der Öffentlichkeit präsentieren.
Die Videoaufnahmen von Zeitzeugen sollen dabei nicht nur eine Bereicherung für aktuelle Chamapedia-LeserInnen sein. «Ich glaube, richtig interessant wird das Material in 50 Jahren. Wenn sich noch mal etwas grundlegend verändert hat. Weil irgendwann kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie markant der Wandel in Cham war», sagt Gretener über sein Herzensprojekt.
Chamer Schatzsucher
Seit dem Start ist die Onlineplattform der Chamer Geschichte stetig gewachsen und hat 2021 die Schallmauer von 2 Millionen Klicks durchbrochen. «Die Leute schauen es sich aktiv an und wir bekommen auch viele Rückmeldungen», erzählt Gretener im Gespräch.
Dabei kann theoretisch jeder mitmachen, es sind aber vor allem die Einsendungen von alten Fotos, die die Betreiber des Lexikons interessieren. «Die Leute haben ein wenig Hemmungen, sich bei uns zu melden. Dabei realisieren sie gar nicht, welche Schätze sie zuhause haben», sagt Gretener, der zu Beginn mit mehr Einsendungen der ChamerInnen gerechnet hatte.
Als positives Beispiel nennt er ein Foto der Luzernerstrasse aus den 1930er-Jahren. Darauf zu sehen sind zwei kleine Kinder, die unbedarft mitten auf der gepflasterten Strasse spielen – kein Automobil in Sicht. «Es zeigt sehr gut, wie stark sich Cham verändert hat. So eine Situation können wir uns heute nicht mehr vorstellen», erklärt der Bürgerschreiber. Die meisten Personenfotos sind für Chamapedia eher uninteressant, aber gelegentlich lässt sich so doch ein neues Stück vom alten Cham entdecken.
Cham von A bis Z
Gestartet ist das Lexikon damals mit dem Bärenplatz in Cham. Vom Treffpunkt der Verbindungsstrassen aus hat man sich zu den Häusern und Strassen in der nahen Umgebung weitergearbeitet. Angefangen mit rund 40 Beiträgen, deckt das Inhaltsverzeichnis heute mit mehreren Seiten die Chamer Geschichte ab – von der Alten Post bis zum Arzt Otto Zürcher. Dass man von einem Startpunkt aus kontinuierlich wachsen kann, beschreibt Gretener als einen der Vorteile des Lexikons.
Für das Schreiben der Artikel braucht es dabei Detailwissen und Kenntnisse der Geschichte. «Wir haben sehr hohe Ansprüche an unser Lexikon. Wir versuchen immer nachzuweisen, woher wir die Informationen haben, damit auch Historikerinnen es als Quelle akzeptieren», erklärt Gretener. Die Einsendungen der Bilder und Informationen werden dabei vom Team in die Texte eingepflegt.
2019 wurde zudem ein Verein gegründet, der sich um die Belange und die Zukunft des Chamer Lexikons kümmert. Neben der digitalen Präsenz organisiert man auch analoge Veranstaltungen für die Mitglieder. So referierte zuletzt im Oktober 2021 in der Klosterlaube Redaktionsmitglied Michael van Orsouw über gekrönte Häupter aus ganz Europa, die im 19. und 20. Jahrhundert Cham besucht haben. «Wir wollen die Geschichte lebendig halten, nicht nur am Monitor», nennt Gretener als eines der Ziele des Vereins. Die Tafeln, von denen es aktuell über 60 Stück gibt, verweisen dabei mit einem QR-Code auf Chamapedia.
Die Finanzierung durch die derzeit rund 150 Mitgliederinnen reicht dabei allerdings nicht aus. «Die öffentliche Hand leistet immer noch den viel grösseren Beitrag in finanzieller Hinsicht», sagt Gretener. Die Einwohnergemeinde und Bürgergemeinde Cham sind derzeit noch die Haupteinnahmequellen.
Und wer noch historische Bilder oder Postkarten von Cham besitzt, kann sie inklusive Quellenangabe an info@chamapedia.ch senden.
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