«Turning Tide» bedeutet so viel wie Gezeitenwende. Dreht sich die Flut, ändert sich die Richtung des Wasserflusses. Solche «Kippmomente» sind in der gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zug das Thema. Sie vereint Werke von Sara Masüger, Jonas Burkhalter und Claudia Kübler und dauert bis zum 5. Januar 2025. Ein Besuch lohnt sich.
Das Kunsthaus Zug hat eine neue Attraktion. Seine aktuelle Ausstellung «Turning Tide» überrascht, gibt Rätsel auf und regt die Vorstellungskraft an. Mit Sara Masüger aus Baar und dem 41-jährigen Zuger Jonas Burkhalter stellen dabei Kunstschaffende aus der Region aus. Zürich, wo die dritte Künstlerin Claudia Kübler herstammt und lebt, ist ebenfalls nicht weit weg; sie hat zudem die Hochschule Luzern besucht und stellt sehr oft in der Zentralschweiz aus.
Zeitgenössische Kunst von jüngeren KünstlerInnen ist ein Vergnügen, denn man wird sicherlich früher oder später weitere Werke entdecken und ihre Entwicklung mitverfolgen können. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen vereint die drei Kunstschaffenden, deren Werke im Kunsthaus Zug ausgestellt sind, das Interesse an Situationen, in denen die Wahrnehmung kippt oder eine Irritation erfährt. Masüger, Burkhalter und Kübler spielen mit dem Fragmentarischen, Brüchigen, Instabilen und schaffen in verschiedenen Medien Neukonstellationen.
Claudia Küblers Werkstoff ist die Zeit
Besonders deutlich sieht man das anhand eines Werkes von Claudia Kübler, dass sie «Tectonic Draft» genannt hat. Dazu arrangierte sie zehn schwarze Gipskartonplatten mit je zehn Zentimeter Abstand am Boden und sprang von einer Leiter auf die Plattenkonstruktionen. Das Resultat: Manche Platten blieben ganz, andere gingen kaputt. Der Besuchende fragt sich unmittelbar: Was ist hier passiert? Und die Aufsicht bittet, das Werk zu umrunden und nicht zu betreten. «Es war ein Wagnis, diese Arbeit in Zug zum ersten Mal zu zeigen», erzählt die Künstlerin. «Teil meines Konzepts war es, dass ich nur einen Versuch hatte und nur ansatzweise wusste, wie sich die Platten verhalten werden. Es ballte sich alles in einem Moment.»
Das entstandene Kunstwerk soll die tektonischen Platten zeigen, welche ebenfalls kollidieren, erodieren, kaputt gehen, sich aufschichten und neue Formen annehmen. Zugleich soll das Werk die geologische Zeit komprimiert darstellen. «Millionen von Jahren der Erdgeschichte stehen Sekunden des künstlerischen Prozesses gegenüber», sagt Kübler. Sie weist zugleich darauf hin, dass die Zeit ein zentrales Thema in ihren Werken und quasi ihr Werkstoff ist.
Das sieht man auch in einem anderen Ausstellungsraum, wo die Zürcherin unterschiedlich grosse Steine auf einem Tisch arrangiert hat. Diese sind unter dem Tisch mit elektrischen Drähten verkabelt. Die Steine drehen sich, manche schnell, manche ganz langsam und kaum erkennbar – ausser man hat Stunden, Tage oder gar Wochen Zeit. Im selben Raum hängt ein altmodischer Telefonhörer an der Wand, den jede und jeder abnehmen darf. Eine Stimme ertönt, es ist die Ansage der «Sprechenden Uhr». Diese nennt die Zeit aber retrospektiv: «Beim letzten Ton war es» statt «Beim nächsten Ton ist es». Die Uhr ist präzise, denn sie empfängt das offizielle Zeitsignal DCF77 aus Frankfurt, basierend auf der Atomuhr.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, das die Künstlerin dazu brachte, sich mit der Zeit zu beschäftigen? «Christian Marclays Werk ‹The Clock›, das ich an der Biennale in Venedig gesehen habe, war eine grosse Inspiration», erzählt die Künstlerin. Nach ihrer ersten Arbeit «Zeit verstreichen», die sich dem Vergehen und damit der Vergänglichkeit widmete, habe sie begonnen, sich für andere Zeitkonzepte zu interessieren. «Nichtlineare Zeit, Loops, polychrone und elastische Zeit und die geologische Tiefenzeit – Zeiträume und Prozesse, die unser menschliches Vorstellungsvermögen herausfordern», sagt Claudia Kübler.
Interesse am menschlichen Körper
Sara Masügers Arbeiten verweisen auf innere Zustände. Ihr Interesse am menschlichen Körper vereint die Künstlerin mit der Frage nach der Materialität von Skulpturen und deren Beziehung zum Raum. Dies sieht man eindrücklich bei ihrem ausgestellten Werk «Sternwarten»: sieben Skulpturen, die aus Tombak gegossen sind, einer Kupferlegierung, ähnlich wie Bronze. Die Skulpturen stehen verteilt in einem Raum und füllen diesen aus. Sie üben beim Besuch der Ausstellung eine grosse Faszination aus und haben eine starke Präsenz. Obwohl es keine Menschen sind, sondern eher Formen, regen sie die Vorstellungskraft an. «Sehe ich da eine Nase oder ein Gesicht?», fragt man sich, um den Gedanken danach schnell wieder zu verwerfen.
Der Künstlerin geht es mit ihrem Werk nicht anders. «Am verwendeten Material fasziniert mich, dass der Kippmoment nicht mehr im Material, also dem Zerbrechen oder Zerfliessen, stattfindet, sondern im Sehen selbst», erzählt Sara Masüger. «Bei längerer Betrachtung entdecke ich Figuren und Gesichter, die ich durch die Bewegung des Blicks wieder verliere, fast wie bei der Betrachtung von Wolken», so die Künstlerin. Es entstehe eine inhaltliche Flüchtigkeit oder eine Flüchtigkeit im Motiv, die in grossem Gegensatz zur Beständigkeit des Materials stehe. Die Positionierung der Skulpturen orientiert sich am Sternbild der Plejaden. «Es ist wie ein Echo der Himmelskonstellation im Raum.»
Pottwale schlafen vertikal
Bei Jonas Burkhalters Kunst geht es um komplexe, natürliche Systeme oder er greift überraschende Alltagsmomente auf. Auch hier warten Überraschungen auf die Besucherschar. So verwandelt sich beispielsweise ein japanischer Bettrahmen im Werk «Dreams» zu einer Art Floss, das ein unbestimmtes Gefühl des Schwebens und Schwankens hervorruft. Im selben Raum sieht man Fotos aus den Strassen New Yorks. Burkhalter hat sie neben Fotos von CD-Ständern gehängt, welche in ihren Formen an die Bauweise von Wolkenkratzern erinnern.
Den Nebenraum hat der Künstler mit «Enjoy» betitelt. Das Werk «Deep Sleep» besteht aus vertikal aufgehängten Skulpturen, welche Wale darstellen. Es enthüllt eine Besonderheit der Natur: Pottwale schlafen vertikal, nahe der Oberfläche des Wassers und in unterschiedlichen Höhen. Dieser von Forschern jüngst entdeckte Fakt hat Burkhalter zu seiner Arbeit inspiriert. «Der Bezug zur Realität in einem Werk ist für mich essenziell», sagt der Künstler.
Die genannten Werke sind nur einige von ganz vielen, welche über neun Räume im Kunsthaus Zug verteilt sind: Bilder, Fotos, Skulpturen, Installationen warten bis zum 5. Januar 2025 darauf, von den Besucherinnen und Besuchern entdeckt zu werden. Zur Ausstellung «Turning Tide» gibt es ein ausführliches Saalblatt, das die Ideen hinter den Werken in jedem Ausstellungsraum spannend auf den Punkt bringt.
Zu den drei Ausstellenden Sara Masüger (geboren 1978 in Baar) studierte Bildende Kunst an der Hochschule der Künste in Bern. Ihre Werke wurden in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, unter anderem in der Akademie der Künste in Berlin, ebenso in Stockholm, Helsinki, im Kunstmuseum St. Gallen und im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich. Ihre Arbeiten sind in renommierten öffentlichen Sammlungen der Schweiz und international vertreten. Jonas Burkhalter (geboren 1983 in Zug) ist ein vielseitiger Künstler, der durch zahlreiche Ausstellungen und Stipendien im Schweizer Kunstbetrieb bekannt geworden ist. Er wurde mehrfach für sein künstlerisches Schaffen ausgezeichnet. Seit 2005 präsentiert Burkhalter seine Werke regelmässig in renommierten Galerien und Museen. 2023 beispielsweise an der Ausstellung «Zentral!» im Kunstmuseum Luzern sowie auf der Art Basel. Claudia Kübler (geboren 1983 in Zürich) studierte an der Hochschule Luzern Design und Kunst und an der Haute école d’art et de design in Genf. Sie hat ihre Werke an einer Vielzahl von Ausstellungen präsentiert und erhielt verschiedene Auszeichnungen. Seit 2016 unterrichtet Kübler an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich. Mehr Infos zu den Kunstschaffenden: https://saramasueger.net https://jonasburkhalter.com https://claudiakuebler.ch