Lukas Baeschlin ist Geschäftsleiter der sozialpädagogischen Schule formidabel. Wir haben mit ihm über die innovativen Ansätze und Herausforderungen in der Bildung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gesprochen. Denn von lösungsorientiertem Denken über integrierte sozialpädagogische Konzepte bis hin zu intensiver Elternarbeit –formidabel mit Hauptstandort in Malters setzt auf ein ganzheitliches Bildungskonzept, das weit über traditionelle Schulmodelle hinausgeht.
Lukas Baeschlin, welche pädagogischen Grundsätze und Methoden bilden das Fundament der Schule formidabel? Wie unterscheiden sie sich von traditionellen Schulkonzepten?
Das Leitbild der sozialpädagogischen Schule formidabel basiert auf dem lösungsorientierten Ansatz (LOA). Der Ansatz geht auf die Therapeuten Steve de Shazer und Insoo Kim Berg zurück und bildet seit 1997 die Basis für all unser Denken und Handeln. Dabei setzen wir auf die vielfältigen, oft unterschätzten oder noch nicht bekannten Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Durch unsere Förderarbeit stärken und erweitern wir diese Fähigkeiten. Während individuelle Herausforderungen bestehen bleiben, arbeiten wir intensiv an alternativen Lösungsstrategien.
Inwiefern werden sozialpädagogische Ansätze in den regulären Unterricht integriert?
Die heil- und sozialpädagogischen Ansätze lassen sich in unserem Alltag nicht auseinanderhalten. Sowohl schulisches als auch soziales Lernen sind in allen Ebenen unserer Arbeit verbunden. Die Schülerinnen, welche unserer Schule durch den Kanton Luzern zugewiesen werden, haben in erster Linie Defizite im Bereich der sozialen Kompetenzen, daher ist es wichtig, dies in die tägliche Arbeit zu integrieren.
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Es wird in den meisten unserer Teams täglich zusammen mit den Schülern eingekauft, gekocht und gegessen. Dies fördert sowohl soziale, schulische als auch lebenspraktische Kompetenzen. Weitere Beispiele sind soziale Interaktion im Alltag und in Krisen, Freundschaft sowie Strukturierung des eigenen Alltags. In den letzten Jahren haben wir zudem immer stärker die Erlebnispädagogik in unsere Arbeit einbezogen. Diese hilft bei der Persönlichkeitsentwicklung, Teamfähigkeit, Problemlösungsfähigkeiten etc.
Welche spezifischen Qualifikationen und Fortbildungen werden von den Lehrkräften an der Schule formidabel erwartet oder angeboten?
Wir beschäftigen sowohl Lehrpersonen als auch Sozialpädagoginnen. Natürlich erwarten wir eine abgeschlossene Ausbildung. Bei den Lehrpersonen bei Möglichkeit mit zusätzlichem Abschluss in schulischer Heilpädagogik. Die Erfahrung hat uns aber gelehrt, dass wir die Mitarbeitenden sehr intensiv entsprechend unserer internen Bedürfnisse weiterschulen müssen. So erhalten alle Mitarbeitenden im ersten Jahr eine interne Weiterbildung zum lösungsorientierten Ansatz und in der pädagogischen Arbeit mit Kindern mit Autismus. Dazu kommen verschiedenste Kurzweiterbildungen, welche wir anbieten, z. B. in Zusammenarbeit mit der Psychiatrie oder im Umgang mit unterstützter Kommunikation. Sehr zentral ist jedoch auch die Arbeit mit den eigenen Ansprüchen, Haltungen und Grundsätzen. Nur in der täglichen Reflexion der eigenen Tätigkeit können die beruflichen Kompetenzen weiterentwickelt und verbessert werden. Zu solchen Themen wird in Teamsitzungen, spezifischen Supervisionen oder Fachberatungen viel gesprochen.
Wie wird der Schulalltag strukturiert, um den besonderen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden?
Das Klassenteam trifft sich jeweils am Morgen zu einer Besprechung. Zusammen mit den Schülern wird der Tag besprochen und geplant. Dabei werden die Kinder auf spezielle Tagesaktualitäten vorbereitet, die Bedürfnisse der Kinder können aufgenommen und sogleich bearbeitet werden. Dann startet der Schulalltag im Schulzimmer. Hierbei wird auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen im Rahmen von spezifischen Tagesplänen Rücksicht genommen. So werden Länge von Lernsequenzen, Inhalte, Themen und der Lernort auf die Ressourcen des einzelnen Kindes abgestimmt. Die Pause wird im Team zusammen mit den Schülerinnen durchgeführt mit Znüni, gemeinsamem Spielen, Gesprächen etc. Am Mittag wird gemeinsam gegessen, anschliessend werden Ämtli gemacht und während einer Siesta können sich die Schüler etwas ausruhen. Am Nachmittag ist nochmals eine Schulsequenz, bevor gemeinsam ein Zvieri eingenommen wird und wenn nötig Hausaufgaben gemacht werden.
Wie werden die Eltern in den Schulalltag und die Entwicklung ihrer Kinder einbezogen?
Eine kooperative Zusammenarbeit mit den Eltern ist ein wichtiger Baustein für die Förderung und Teilnahme des Kindes am täglichen Unterricht. Der gemeinsame Blick auf das Wohl des Kindes ist die beste Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit. Dazu braucht es gegenseitiges Interesse, Verständnis und Wertschätzung sowie eine Begegnung auf Augenhöhe. Eine verlässliche, authentische und transparente Arbeitsweise gibt dem Kind sowie den Eltern Halt, Orientierung und Sicherheit. Damit eine respektvolle Zusammenarbeit gelingen kann, ist es unerlässlich, eine hohe Gesprächsbereitschaft zu zeigen und unterschiedliche Gesprächs- und Austauschformen anzubieten. Ein wöchentlicher Kontakt durch die Bezugsperson ist Standard. Als zusätzliches Angebot haben wir die «verstärkte Familienzusammenarbeit»; hier versuchen wir unkompliziert und niederschwellig die Familien zu unterstützen, z. B. im Sinne von Unterstützung beim Aufbau von Erziehungskompetenzen. Dies geht über die übliche Zusammenarbeit hinaus und beinhaltet u. a. auch regelmässige Besuche zuhause.
Mit welchen besonderen Herausforderungen sieht sich die Schule konfrontiert und wie geht sie damit um?
Die Themen der zugewiesenen Schülerinnen haben sich sehr verändert. Dies unter anderem aufgrund der Integrativen Sonderschulung. So werden heute nur noch Schüler mit einer sehr starken Ausprägung im Bereich Verhalten einer separativen Sonderschulung zugewiesen, sodass die Intensität markant zugenommen hat. Dies musste aber ohne Aufstockung des Personals oder der zur Verfügung stehenden Mittel umgesetzt werden.
Wie wird der Schulerfolg der Schüler gemessen und bewertet? Gibt es alternative Beurteilungsformen jenseits klassischer Noten?
Als Teil der Volksschule sind wir gezwungen, uns an die Beurteilung gemäss dem Volksschulgesetz zu halten und auch entsprechende Zeugnisse zu erstellen. Dies ist aber der weniger wichtige offizielle Beurteilungsrahmen. Im Zentrum steht für uns die persönliche Beurteilung der Kinder selbst in Bezug auf ihre persönliche Entwicklung. So wird im Rahmen von wöchentlichen Gesprächen mit der Bezugsperson die Entwicklung in einzelnen Bereichen reflektiert und eruiert. Dabei liegt der Fokus vollumfänglich auf den Bedürfnissen der Kinder. Die Arbeit an den Zielen der Kinder und ihre Fortschritte werden regelmässig thematisiert und visualisiert.
Wie positioniert sich die Schule im Kontext aktueller bildungspolitischer Debatten und Reformen?
Unsere Aufgabe besteht darin, die uns zugewiesenen Schüler möglichst gut zu fördern und sie zu unterstützen, ein eigenständiges Leben führen zu können. Wir sind bemüht, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, welche aus unserer Sicht für die Arbeit und die Kinder hilfreich sind – unabhängig von politischen Debatten und Reformen. Dabei sind wir der Überzeugung, dass die Politik der Pädagogik meistens nicht zum Guten verhilft, da diese mehrheitlich von Prinzipien motiviert ist und nicht von pädagogischem Wissen und Notwendigkeiten.
Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte um Kleinklassen versus vollständige Integration in der Regelschule?
Die Integration hat die Regelschulen vor grosse Herausforderungen gestellt und stellenweise an die Grenzen der Belastung gebracht. Es sind dringend Anpassungen in der Schule notwendig. Ich bin der Ansicht, dass zur Lösung der aktuellen Probleme neue Ideen gefragt sind, welche auch die Veränderung der Gesellschaft auf allen Ebenen einbeziehen. Die Schule müsste neu gedacht und nicht alte Ideen neu aufgerollt werden.