Kriminalpsychologen beleuchten die Hintergründe eines Verbrechens. Eine Koryphäe auf diesem Gebiet ist der Tiroler Thomas Müller, der seine Ausbildung beim FBI ergänzte. Diese Woche teilte er sein Wissen an einem Seminar in Luzern mit HR-Verantwortlichen und anderen Führungskräften. Denn auch sie müssen oft Personen beurteilen, ohne sie genauer zu kennen, beispielsweise bei einer Neuanstellung.
Die Erkenntnisse der Kriminalpsychologie sind auch in der Wirtschaft von Interesse: Bei der Personalauswahl, bei Mitarbeitergesprächen und bei der Besetzung von Schlüsselpositionen geht es immer wieder um die Frage: Wie schätzen wir eine Person ein, die wir noch nie gesehen haben und was genau trauen wir ihr zu? Und nach welchen Kriterien beurteilen wir?
Genau das macht auch ein Kriminalpsychologe wie Thomas Müller. «Es geht in meinem Beruf um Menschen», sagt der aus Wien angereiste Österreicher im Rahmen eines Seminars in Luzern, wo er sein Wissen mit HR-Verantwortlichen und anderen Führungskräften teilte. Er versucht Licht ins Dunkel von aussergewöhnlichen Verbrechen zu bringen, schaut sich Tatorte an, beobachtet genau und schliesst aus den Indizien auf das Verhalten der Täterschaft. Ein Kriminalpsychologe versuche nicht, den Menschen zu verstehen. «Das ist das Gebiet des forensischen Psychiaters. Sigmund Freud bleibt deshalb heute draussen. Das Warum ist die einzige Frage, die mich interessiert.»
Fachliche und soziale Kompetenzen
Auch an Führungskräfte und HR-Verantwortliche wird der Anspruch gestellt, dass sie neben den fachlichen Kompetenzen die menschlichen Eigenschaften richtig einschätzen. Sie stellen sich beispielsweise die Frage: Sind fachlich kompetente Mitarbeiter auch automatisch loyal, fleissig und sogar empathisch?
Thomas Müller hat in seiner Laufbahn – er war in der Vergangenheit auch schon beim FBI in den USA – viele Serienmörder interviewt. Diese seien oft hochintelligent und fachlich kompetent. Einer war beispielsweise ein hochbegabter IT-Spezialist, erzählt er. Doch wie steht es um deren Sozialkompetenz? Wer erahnte den menschlichen Abgrund des Täters und dass dieser viele Opfer auf dem Gewissen hat?
Die Ausführungen des Tirolers sind spannender als jeder «Tatort». Am Seminar im Hotel Schweizerhof, das die auf Wirtschaftspsychologie und Unternehmensberatung spezialisierte MarkWin GmbH anbietet, hingen rund ein Dutzend Führungskräfte an den Lippen des aussergewöhnlichen Referenten aus Wien, der seine Erläuterungen humorvoll und mit vielen Beispielen aus dem Leben illustrierte.
Neugierig sein und beobachten
Als erstes gab der 59-Jährige den Anwesenden den Tipp, neugierig zu sein. Sie sollten einmal im Alltag Menschen und ihr Verhalten beobachten. «Ich war in jungen Jahren uniformierter Polizist in Innsbruck und habe mich freiwillig für den Dienst am Bahnhof gemeldet, wo man gut Leute beobachten kann», erzählte Müller.
Kein Verhalten sei rein zufällig, sondern bedürfnisorientiert. Sehr wichtig sei das Bedürfnis nach Anerkennung. Wie lässt sich Verhalten messen? «Nicht aufgrund ihrer eigenen ethischen und moralischen Wertvorstellungen», so Müller, «messen in der Psychologie bedeutet vergleichen mit vielen anderen Personen.»
Im Wirtschaftsbereich falle oft der Satz «Das traue ich jemandem zu». Thomas Müller fragte die Anwesenden, aufgrund welcher Kriterien diese Wertung geschieht. «Oft sind wir völlig unfähig, das zu beurteilen.» In den Kriminalfällen von Rupperswil, bei Josef Fritzl oder dem Kindermörder Werner Ferrari habe niemand den Tätern die Verbrechen zugetraut. «Mörder und andere Verbrecher schauen so aus wie du und ich.»
Wie kann man also jemanden beurteilen, ohne sich bloss auf das Gesagte abzustützen? Der Schreibtisch der Mitarbeitenden, des Chefs oder der Chefin, sagt oft viel mehr aus als ihre Selbstdarstellung (im Privatbereich lohne sich auch ein Blick den Kühlschrank, ins Auto oder Badezimmer). Ist der Arbeitsplatz blitzblank aufgeräumt oder aber herrscht ein (kreatives) Chaos? Welche Bilder oder andere Gegenstände zieren den Arbeitsplatz? Und wie kontrastieren diese allenfalls mit dem, was er oder sie selber als wichtig im Leben bezeichnet?
Wie jemand eine Aufgabe erledigt, sage oft auch viel über eine Person aus. Beispielsweise wenn jemand eine Zusammenfassung schreiben muss. Die eine schreibt ein paar Sätze und die Sache ist erledigt. Der andere schickt ein umfangreiches Mail mit einem Dutzend Anhänge. Man müsse Menschen durchaus zuhören und auch Glauben schenken, aber sie gleichzeitig an ihren Taten – und nicht bloss an ihren Worten – messen. Man solle auch auf Widersprüche achten. Bei wichtigen Entscheidungen im Leben lüge eine Person nicht, so eine weitere Erkenntnis.
Der Person Fragen stellen
Eine Teilnehmerin wollte wissen, wie man das negative Verhalten von Mitarbeitenden beeinflussen kann. «Nichts tun ist nicht gut. Aber sammeln Sie zuerst Daten», so der Tipp des Kriminalpsychologen. Verhalten zu ändern, sei praktisch unmöglich. Aber das Verstehen der Motive sei wichtig. «Stellen Sie der Person Fragen, um ihre Beweggründe herauszufinden. Werten Sie nicht.»
Am Nachmittag der Weiterbildung präsentierte Thomas Müller Beispiele aus dem kriminalistischen Alltag, die teilweise nichts für schwache Nerven waren. Mordfälle, bei denen der Täter oder die Täterin den Tatort auffällig arrangierte, um die Ermittler auf eine falsche Fährte zu führen. Und einen Mord als Suizid zu tarnen.
Wichtig bei der Aufklärung von Kriminalfällen, so der Profiler, sei es oft, zusätzliche Informationen von Beschuldigten oder Verurteilten im Gefängnis zu erhalten. Das sei gar nicht so einfach, denn oftmals seien diese hochmanipulativ. «Ausserdem haben sie sehr viel Zeit.» Man dürfe weder von oben auf die Person hinunterschauen, noch raufschauen und betteln, dass die Person mit einem rede.
Auch aufs Nonverbale achten
Es gilt, nicht nur auf die Worte zu achten, sondern auch auf andere Zeichen wie zum Beispiel das Verhalten. Die nonverbale Kommunikation sei sehr mächtig, so Müller. «Wenn man mit jemandem spricht und er oder sie auf die Uhr, aufs Handy oder durch dich hindurch schaut, sind das starke Zeichen.» Beispielsweise reagieren Kinder sehr heftig und fangen an zu schreien, wenn ihre Bezugspersonen sie nicht beachten.
Am Nachmittag entführte der Kriminalpsychologe die Seminar-Teilnehmenden noch tiefer in die Welt der Psychologie und zeigte ihnen auf, wie die Menschen ticken – oder manchmal austicken. Als Beispiel aus der Region erwähnte Thomas Müller das Attentat aufs Zuger Parlament von 2001, bei dem Friedrich «Fritz» Heinz Leibacher 14 Politikerinnen und Politiker erschoss, weitere verletzte und sich am Schluss selbst richtete. Am Anfang stand ein Disput mit einem Busfahrer, bei dem er sich gedemütigt fühlte. Später ergriff Leibacher Rechtsmittel, unterlag jedoch immer wieder. Seine Wut gegen alle Behörden führte schliesslich zur schrecklichen Bluttat.
Ein Schlüssel, um menschliches Verhalten zu verstehen, sei das Selbstwertgefühl, erklärte der Kriminalpsychologe. «Es geht um die Frage, wie wichtig ich bin und welche Bedeutung ich habe.» Drei Bereiche prägen dieses Gefühl: die berufliche Tätigkeit, die Interaktion mit anderen und das Ego (mit allen Entscheiden für mich selbst wie Hobby, Sport etc.). Diese drei Bereiche seien im Idealfall zu je einem Drittel vertreten. Wenn ein Bereich überwiegt, kann das zu Dissonanzen führen. «Man sollte keiner Institution oder Person mehr als 49 Prozent seiner Aufmerksamkeit schenken.»
Das Selbstwertgefühl ist wichtig
«Wenn das Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird, legen sich manche auch eine Neurose zu», erklärte Müller, «sie werden zum Beispiel shoppingsüchtig.» Andere Menschen, die sich nicht mehr gebraucht fühlen, flüchten sich in eine Sucht. Sie schlucken zum Beispiel Psychopharmaka gegen ihre Ängste. Oft senken Süchte jedoch auch die moralische Hemmschwelle.
Ein grosses Problem in der Wirtschaft: Erfolgreiche Menschen würden kaum mehr kontrolliert. Müller nannte das Beispiel des Brokers, der vor einigen Jahren 3,6 Milliarden Euro verzockte. 56 Expertisen seien vorgängig zum Schluss gekommen, dass alles in Ordnung wäre.
Als letztes, sehr interessantes Kapitel beleuchtete der Kriminalpsychologe die «Dynamik der Angst». Die Angst sei der grösste Antreiber für destruktives Verhalten, sei es am Arbeitsplatz oder im Privatleben. Es gebe natürliche Ängste, die uns schützen, beispielsweise vor Unfällen. Aber die Ängste dürften nicht überhandnehmen. Darüber zu reden ist sehr wichtig und befreit. «Ihr werdet nicht mutig, wenn ihr keine Ängste habt, sondern wenn ihr lernt, mit diesen Ängsten umzugehen», sagte Thomas Müller.
Aggression aufgrund fehlender Kommunikation
Auch beleuchtete der österreichische Experte die Frage, woher die Aggression kommt. Müller dazu: «Am Anfang steht oft eine schlechte, unglückliche oder abgebrochene Kommunikation.» Leute, die nicht kommunizieren, weil «eh alles in Ordnung ist», beispielsweise ein Arzt, der seinen Patienten einen Befund tagelang nicht mitteilt, obwohl er dies versprochen hat, könnten damit viel Leid und Aggressionen auslösen.
Müller empfahl, viel direkt im Gespräch oder am Telefon zu kommunizieren – und nicht immer Mails oder Whatsapp-Nachrichten zu schreiben – diese Medien dienten einzig dem Informationsaustausch. Er bezeichnete dies als «die Macht der Kommunikation».
Gerade im Krisenmanagement, wenn sich beispielsweise jemand umzubringen droht, sei es wichtig, die Person «in die Kommunikation zurückzubringen». Beispielsweise mit der Frage «Versuchen Sie zu erklären, warum Sie das tun». Darauf reagiere eine Person oft heftig, aber sie fühle sich ernstgenommen und Müller brachte damit einen Mann mit Suizid-Absicht von seinem Vorhaben ab. Denn auch das gehört zur Arbeit eines guten Kriminalpsychologen.
Mehr Infos zur Organisatorin des Seminars in Luzern findest du hier.
Der Referent Der Profiler Dr. Thomas Müller (59) ist Europas führender Kriminalpsychologe und der breiten Öffentlichkeit durch seine spektakulären Analysen von Serienkillern bekannt. Sein profundes Wissen in der Kriminalpsychologie und Forensischen Psychiatrie ist auch im Wirtschaftsbereich von grossem Interesse. Der Innsbrucker begann seine Berufskarriere als Sicherheitswache-Beamter und wurde später Polizist. Danach studierte er Psychologie und absolvierte eine einschlägige Ausbildung beim FBI. 1993 begann er im österreichischen Innenministerium den Kriminalpsychologischen Dienst aufzubauen, den er bis 2004 leitete. 2001 promovierte er zum Dr. rer. nat. im Bereich Kriminalpsychologie / Forensische Psychiatrie. Müller hatte wiederholt internationale Lehraufträge und hält Vorträge in Europa, Amerika, Südafrika und Australien. Gemeinsam mit seinem Mentor und Freund Robert Ressler interviewte Müller in den USA die gefährlichsten Serienkiller wie Jeffrey Dahmer, den «Milwaukee Kannibalen», der 17 junge Männer ermordete. Thomas Müller ist eine Koryphäe, wenn es um menschliches Verhalten geht und darüber hinaus ein talentierter Rhetoriker. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter «Bestie Mensch» und «Gierige Bestie».